Loslassen und zu sich selbst finden
von Oliver Petersen
Je älter wir werden, desto mehr sind wir mit dem Thema Loslassen konfrontiert: die Kinder gehen aus dem Haus, die beruflichen Chancen werden weniger — es ist an der Zeit, mehr nach innen zu schauen. Die folgende Meditation kann unsere Bereitschaft zum Loslassen stärken.
Es ist wichtig, dass wir in einem entspannten Zustand üben. Daher nehmen wir uns zuerst einige Minuten Zeit, um Körper und Geist zu beruhigen. Wir nehmen eine geeignete Körperhaltung ein. Wir zentrieren die Energien des Körpers, indem wir uns mit aufrechtem Oberkörper hinsetzen und die Hände ineinander legen.
Dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf den Körper. Wir entspannen die Augen, den Kiefer und die Gesichtszüge. Wir spüren in die Schultern, den Rücken und die Bauchdecke hinein. Überall, wo wir Verspannungen bemerken, versuchen wir, sie zu lösen. Wohin wir auch unsere Aufmerksamkeit richten, wir spüren Wärme und Entspannung. Durch die Achtsamkeit auf den Körper kommen wir ganz im Hier und Jetzt an.
Nun spüren wir unseren Atem, etwa in der Bewegung der Bauchdecke oder durch die Tastempfindung oberhalb der Lippen. Wir bleiben für einige Momente ganz beim Atmen. Wenn wir abgelenkt sind, lenken wir den Geist zurück auf das Objekt.
Die eigentliche Meditation
Nun stellen wir uns ein Wesen unseres Vertrauens vor, etwa den Buddha. Der Buddha schaut uns voller Güte an wie eine gute Mutter. In diesem geborgenen Zustand versuchen wir loszulassen, womit wir uns in diesem Leben identifizieren, ähnlich wie es im Prozess des Alterns und schließlich beim Sterben der Fall sein wird. Dabei gehen wir behutsam vor. Was wir loslassen wollen, kann unser Besitz sein, unsere berufliche Identifikation, eine menschliche Beziehung, eine Rolle oder unsere Körperkraft.
Schrittweise stellen wir uns die Dinge vor, die wir loslassen wollen. Wir trennen uns von unserer Anhaftung daran, indem wir sie symbolisch im Geist in eine Schale legen: das Geld, die Hausschlüssel, die Gehaltsabrechnung, Ausweispapiere, die Bücher… Wir betrachten diese Dinge — und lassen sie los. Vielleicht spüren wir, wie schwer es uns bei bestimmten Objekten fällt. Diese Gefühle nehmen wir einfach wahr, ohne uns dafür zu verurteilen.
Noch einmal wenden wir uns innerlich an den Buddha. Durch seine Anwesenheit und unser Vertrauen in ihn fällt es uns leichter, die Selbstbilder unserer gesellschaftlichen Konditionierung loszulassen, und uns in den Raum der Selbsterfahrung zu begeben.
Unsere Hingabe bewirkt, dass nun Licht vom Buddha ausgeht und in unseren Körper kommt. Wir spüren dadurch eine große Inspiration, und unser Vertrauen wächst weiter an. Jetzt richten wir die Aufmerksamkeit auf unseren eigenen Geist, der wie ein offener weiter Raum ist. In diesem Raum können wir die Gedanken und Emotionen wahrnehmen wie Wolken am Himmel. Alles darf da sein, aber wir halten nichts fest. Auch die Gedanken, Konzepte, Ängste lassen wir wieder gehen, ohne danach zu greifen. Alles, was an inneren Turbulenzen aufkommt, auch in Form von Bildern, löst sich in die Weite des Himmels auf. Mit dieser Erfahrung von Weite und Offenheit können wir die Meditation beenden. Wir machen einige bewusste Atemzüge, nehmen den Körper wahr, und gehen inspiriert in den Alltag.
Wer diese Erfahrung noch vertiefen möchte, kann im Folgenden darüber meditieren, wie sich die Elemente des Körpers auflösen.
Vertiefung
Im buddhistischen Tantra wird der Sterbeprozess meditiert, während dessen sich die Elemente des Körpers auflösen. In jedem Stadium erscheinen innere Bilder. Indem man diese Bilder wahrnimmt, erreicht der Geist immer tiefere Ebenen, die damit einhergehen, dass sich Gedanken und Vorstellungen schrittweise auflösen, bis eine bloße Leere wahrgenommen wird. In der Meditation stellt man sich die Abläufe vor, um sich auf das Sterben vorzubereiten.
Wenn das Erdelement schwächer wird, erscheint das innere Bild einer Luftspiegelung. Wir nehmen die inneren Bilder wahr, ohne danach zu greifen. Dann trocknen die Flüssigkeiten im Körper aus, das Wasserelement löst sich auf.
Dabei entsteht ein Bild von Rauchschwaden, die gen Himmel steigen. Welche Gefühle auch immer dadurch in uns aufkommen: Wir machen uns diese nur bewusst und lassen sie gleich wieder los.
Als nächstes verliert der Körper seine Wärme. Innerlich haben wir eine Erscheinung von Feuerfunken oder Glühwürmchen, die wir einfach nur betrachten. Als letztes gibt das Windelement seine Dienste auf, dabei erscheint ein flackerndes Kerzenlicht.
Wir kommen nun in immer subtilere Bereiche von Geist und Körper, und die Gedankentätigkeit nimmt ab. Die feinstofflichen Energien des Körpers, die den Geist tragen, ziehen sich zusammen. Wir erleben eine weiße und eine rote Erscheinung: wie ein Nachthimmel, der vom strahlenden Mond erhellt wird, und ein Abendhimmel in der Dämmerung bei Sonnenuntergang.
Schließlich erfahren wir so etwas wie eine tiefe Ohnmacht, eine Erfahrung extremer Dunkelheit. Wenn diese endet, tritt das klare Licht des Todes auf, eine unendliche formlose Weite und Klarheit, in der wir unsere eigentliche Natur erfahren: die Verbundenheit mit allem. Wir entspannen uns in dieses reine zeitlose Sein hinein, unser wahres Zuhause. Glückseligkeit erfüllt uns, wir erkennen diese Weite als die endgültige Realität unseres Selbst und aller Phänomene, als die Leerheit von Selbstexistenz. Wir stellen uns intensiv vor, in diesem gesegneten Zustand zu sein und verweilen eine Zeitlang darin.
In dieser tiefen Versenkung sind wir nicht in der Lage, anderen Wesen zu nutzen. Dieser Impuls des Mitgefühls führt dazu, dass die Erscheinungen in umgekehrter Folge auftreten: Wir manifestieren zunächst eine subtile und dann wieder eine grobstoffliche Körperform.
Nun danken wir dem Buddha für seinen Segen. Wir wissen, dass wir uns jederzeit wieder an ihn wenden und zu dieser tiefen Selbsterfahrung zurückkommen können. Die Erscheinung des Buddha löst sich auf wie ein Regenbogen im Himmel.
Wir richten unsere Aufmerksamkeit wieder auf unseren Atem und werden uns des Körpers bewusst. Wir wissen, dass wir durch diese innere Reise eine Reinigung von Körper, Rede und Geist erfahren und uns kraftvoll auf den Tod vorbereitet haben. Mit Zuversicht können wir allem entgegen sehen, was kommt. Gestärkt und gelöst nehmen wir langsam wieder unsere alltäglichen Aktivitäten auf.