Kagyu Samye Dzong Kirchheim e.V.

Die vier außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen und ihre Bedeutung

Interviews mit Kalu Rinpoche und Trungpa Rinpoche

Tschögyam Trungpa Rinpoche : Jede Form von spiritueller Disziplin, eines handwerklichen oder pädagogischen Programms, hat ihre anfänglichen, mittleren und abschließenden Stufen. Die vier vorbereitenden Übungen (sngon-‚gro, wörtlich »voran-gehend«, Einleitung) stehen am Anfang der Disziplin des Vajrayana. Natürlich ist das Vajrayana nicht die erste, sondern die dritte Stufe buddhistischer Praxis, welcher Hinayana und Mahayana vorausgehen. Diejenigen aber, welche mit der Disziplin des Vajrayana beginnen, tun dies mit den vier vorbereitenden Übungen. Im Einklang mit der Tradition erfordert die Praxis dieser grundlegenden Übungen gründliche Vorbereitung. In Tibet mussten sich die Menschen in früheren Zeiten einer umfassenden, langwierigen Schulung unterziehen, ehe sie die vorbereitenden Übungen praktizieren konnten. Diese umfasste grundlegende Ausbildung von innerer Geistesruhe und Einsichts-Meditation (Tib. Shine und Lhaktong, Skt. Samatha und Vipassana) ebenso wie eine gewisse Schulung im Mahayana, wozu das formelle Ablegen des Bodhisattva-Gelübdes gehörte.

Ehe der Praktizierende mit einer Meditationssitzung beginnt, schließt er alle Ablenkungen aus. Er kann dann ein Abbild derjenigen Visualisation aufstellen, welche in dieser Praxis angewendet wird, beispielsweise eine bildliche Darstellung von Vajrasattva (Dorje Sempa), ein Bild des Zufluchtsbaumes usw. Die eigentliche Praxis der vier besonderen vorbereitenden Übungen bezieht den Praktizierenden in ein intensives Geschehen ein, das körperliche, verbale und geistige Handlungen vereinigt. Während er jeden Abschnitt der liturgischen Darstellung rezitiert, visualisiert er diejenige Szene, welche darin Beschreibung findet, denkt über die Bedeutung der Gebete nach, und führt die angegebenen rituellen Handlungen aus. Währenddessen versucht er, seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Praxis zu konzentrieren. Damit er die Praxis vervollständigt, muss er traditionell jede der vier besonderen vorbereitenden Übungen 111.111 mal ausführen. Da die Zufluchtnahme auch 111.111 volle Verneigungen umfasst, ist die Gesamtzahl 555.555. Die Praxis wird von daher als die »Fünfhunderttausend« bezeichnet. Für Menschen im Westen, die aufgrund ihrer Lebensumstände nicht volle Anzahl der Übungen ausführen können, hat der 17. Karmapa eine kürzere Version verfasst.  

Worin besteht die Funktion einer jeden der vier besonderen vorbereitenden Übungen?

Kalu Rinpoche: Allgemein gesprochen, entfernen die ersten 444.444 Übungen (das sind die Zufluchtnahme und die Verneigungen, die Vajrasattva-Praxis und das Mandala-Opfer) die Verdunkelungen und Hindernisse,  und bewirken die zwei Formen der Ansammlung. Der Guru-Yoga verleiht uns großen Glauben an unseren Guru, was dazu führt, dass wir seinen Segen empfangen und Mahamudra erreichen können. Trungpa Rinpoche: Die vier besonderen vorbereitenden Übungen sind ein Entwicklungsprozess, in dem jede Begebenheit ihren festen Platz hat. Man könnte sie zu den vier Dharmas von Gampopa in Beziehung setzen. Bei der Zufluchtnahme richtet sich unser Geist allmählich auf den Dharma; dies ist der erste Dharma bei Gampopa. Unsere Einstellung zu uns selbst und zu allem in unserem Leben wird sich ganz auf die Dharma-Praxis beziehen. So etwas wie eine Unterscheidung zwischen Dharma und Profanem gibt es nicht mehr.

Wenn wir mit der Praxis beginnen wollen, müssen wir uns zuerst dem Dharma vollständig »ausliefern«. Dies wird erreicht durch die Ausführung von Verneigungen – ein Vorgang der völligen Hingabe und eindeutigen Verpflichtung. Ich glaube nicht, dass jemand mit der Praxis des Vajrayana ohne dies beginnen kann. Wenn wir das Bodhisattva-Gelübde ablegen, treten wir tatsächlich die Reise auf dem Dharma-Weg an: Bodhicitta, das große Mitgefühl und der Pfad des Bodhisattva. Das bezieht sich auf den zweiten Dharma bei Gampopa, der besagt, dass unsere Dharma-Praxis auf dem Wege wirklich von Erfolg sein kann.

Wenn wir die Praxis des Vajrasattva ausführen, reinigen wir dasjenige, was wir aufgegeben haben, alle unsere Unreinheiten, Verfehlungen und negativen Handlungen von Körper, Rede, Geist, und gestehen sie ein. Alle Unreinheiten müssen gereinigt werden. Nach der Reinigung bleibt immer noch etwas übrig: die bloße Person, welche noch einen Hauch von Arroganz, ein Körnchen der Idee von dauerhafter Existenz in sich tragen könnte.

In der Praxis des Mandala geben wir tatsächlich alles hin, die bloße Person eingeschlossen. Diese – den Geber – bringen wir ebenso wie alle Opfergaben als Opfer dar. An diesem Punkt existieren wir gewissermaßen nicht mehr weiter. Zum Zeitpunkt, wenn wir zu der Praxis des Guru-Yoga gelangen, sind wir psychologisch dazu bereit, eine Identifikation mit unserem Guru einzugehen. In unserem Geist entsteht grenzenlose Hingabe. Diese steht in Beziehung zu dem dritten Dharma bei Gampopa, der besagt, dass die Verwirrung geklärt werden kann, wenn wir dem Pfade folgen. Die tatsächliche Umwandlung von Verwirrung in Weisheit, der vierte Dharma bei Gampopa, bedeutet das Empfangen von Abhishekas bzw. Einweihungen und die Ausübung verschiedener Sadhanas. Das ist der Hauptteil der Disziplin des Vajrayana, welcher viel später kommt.

  • Teaching angelegt von Frank
  • letzte Bearbeitung am: 21. Juli 2024