Mahayana – das große Fahrzeug: Weisheit und Mitgefühl vereint
Der Mahayana-Pfad, der zum Zustand der vollständigen und vollkommenen Erleuchtung führt, ist nicht nur der Pfad der Weisheit, das heißt der Realisation der Leerheit, sondern ist vielmehr der Pfad, der Weisheit und Mitgefühl miteinander verbindet. In der Tat ist der einfachste Weg zu verstehen, was es bedeutet, „vollständige und vollkommene Erleuchtung“ oder Buddhaschaft zu erlangen, zu wissen, dass es der Zustand ist, den man erreicht, wenn man seine Weisheit vollkommen zu ihrem endgültigen Grad, und sein Mitgefühl für andere in höchstem Maße entwickelt hat. Wenn man diesen Zustand erreicht, hat man die größtmögliche Motivation und Fähigkeit, anderen von Nutzen zu sein. Wenn man diese Fähigkeit auf wirklich unendliche Weise in die Tat umsetzt, erzeugt man grenzenlosen Nutzen für andere und gleichzeitig nützt man sich selbst. Daher ist die Entwicklung des Mitgefühls für andere ein wesentlicher Bestandteil der Mahayana-Praxis. Khenpo Tsultrim Gyamso
Der zweite Lehrzyklus: Mahayana, die Lehre von der Merkmalslosigkeit
Tenga Rinpoche: Sutra & Tantra
Sechzehn Jahre nach seiner Erleuchtung begann Buddha Shakyamuni in Rajgir mit den Darlegungen des zweiten Lehrzyklus. Dieser beinhaltet die Lehre von der Merkmalslosigkeit, der Leerheit aller Phänomene. Es geht dabei nicht um ein Negieren ihrer Existenz, sondern darum, die wahre Natur der Phänomene zu erklären.
Alle Erscheinungen, alle Phänomene sind ihrer Natur nach nicht wahrhaft existent, sie sind leer. Gleichzeitig treten sie jedoch andauernd in Erscheinung. Buddhas kürzeste Darlegung vom letztendlichen Nichtvorhandensein einer wahrhaften Existenz und vom gleichzeitigen relativen In-Erscheinung-Treten aller Dinge findet man im Herz-Sutra, in dem es heißt:
„Form ist Leerheit, Leerheit ist Form. Form ist von Leerheit nicht verschieden und Leerheit nicht von Form.“
- Form ist Leerheit bedeutet, dass die Dinge keine inhärente Wirklichkeit besitzen.
- Leerheit ist Form bezieht sich darauf, dass die von Natur aus leeren Phänomene mannigfach in Erscheinung treten.
Alle Dinge entstehen in Abhängigkeit voneinander: sie sind einerseits selbst durch anderes bedingt und bilden andererseits die Bedingung für das Entstehen des nächsten. Anhand der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Wind, aus denen alle Phänomene bestehen, wird deutlich, wie sich alles gegenseitig beeinflusst und bedingt. Die Erde ist die Grundlage für alles Leben, für Menschen, Tiere und Pflanzen.
Das Element Wasser bewirkt das Zusammenhalten und Zusammenziehen der Dinge, es lässt sie ineinander verschmelzen. Feuer vermehrt und entfaltet, und Wind bewegt Dinge von einem Ort zum andern. Genauso, wie die Elemente aufeinander aufbauen, können sie sich gegenseitig zerstören. So löscht Wasser Feuer, Feuer verbrennt Dinge und Wind zerstreut sie.
Phänomene treten also jeweils in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen in Erscheinung und lösen sich wieder auf. Sie existieren also nicht unabhängig voneinander und können daher auch nicht wahrhaft existent sein. Gewöhnliche Menschen, die die Leerheit der Phänomene nicht erkannt haben, halten diese für wirklich und haften an den Merkmalen, die sie ihnen zuschreiben. Als Folge davon entstehen die leidbringenden Gefühle. Ein Bodhisattva hingegen, der die Leerheit erkannt hat, nimmt die Dinge zwar ebenso wahr wie ein gewöhnlicher Mensch, allerdings lebt er nicht in der Illusion ihrer Wirklichkeit. Der Unterschied liegt also nicht darin, was man sieht, sondern darin, wie man es versteht. Dies wird in einem Vers von Tilopa deutlich:
Ungeachtet ihrer Zahl sind es nicht die Dinge, die uns an die bedingte Existenz binden, sondern unser Haften an ihnen.
Form ist von Leerheit nicht verschieden bedeutet, dass Form niemals von Leerheit zu trennen ist. Phänomene, wie eine Vase, entstehen, während ihre Natur leer ist, und lösen sich wieder auf. Form und Leerheit, z. B. das Phänomen Vase und deren eigentliche Natur, sind nicht voneinander getrennt, vielmehr ist jeweils das eine die Eigenschaft des anderen.
Leerheit ist von Form nicht verschieden bedeutet, dass es keine Leerheit gibt, die etwas anderes als die Dinge wäre. Sobald nämlich etwas entsteht, besteht gleichzeitig auch dessen Leerheit. Eine Vase z. B. ist nicht wahrhaft existent; die Leerheit der Vase und ihr In-Erscheinung-Treten sind jedoch nicht voneinander getrennt, und ohne Vase kann man auch nicht von deren Leerheit sprechen. Buddha setzte seine Darlegung im Herz-Sutra mit folgenden Worten fort:
Es gibt keine Form, keinen Laut, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine Empfindung. Dies ist kein Negieren der Phänomene, sondern bezieht sich auf die eben beschriebene Tatsache, dass sie ihrer wahren Natur nach leer sind. Dies ist die Lehre von der Merkmalslosigkeit aller Dinge.
Buddha Shakyamuni prophezeite, dass 400 Jahre nach seinem Parinirwana ein Lehrer die Bedeutung der Leerheit weiter ausführen werde. Dieser Lehrer war Nagarjuna (Tib. Ludrup). Nachdem er durch Meditation die Bedeutung der Leerheit vollkommen erkannt hatte, verfasste er eine Reihe von Texten.
Einige dieser Abhandlungen legen die philosophischen Grundlagen für das Verständnis der Leerheit dar – die Madhyamaka-Philosophie -, andere hauptsächlich die Meditations-Praxis, die zur tatsächlichen Erkenntnis der Leerheit führt. Einer der wichtigsten Texte Nagarjunas ist das Mulaprajna (Tib. Tsawe Sherab), in dem er erklärt, dass für das Erlangen der Buddhaschaft zuallererst ein richtiges Verständnis von der relativen Wirklichkeit wichtig sei, um auf dieser Grundlage die Erkenntnis der leeren Natur aller Phänomene zu entwickeln.
Grundlage ist also das Verständnis der relativen Wirklichkeit, nämlich der Erlebniswelt, wie sie von gewöhnlichen Wesen erfahren wird. Diese Ebene der Wirklichkeit ist demnach jener Aspekt der Dinge, der unserer allgemeinen Wahrnehmung entspricht, z.B. dass Wasser als Wasser und Feuer als Feuer wahrgenommen wird.
Die letztendliche Wirklichkeit ist – gemäß der Madhyamaka-Philosophie – die Tatsache, dass die Dinge ihrer Natur nach nicht wahrhaft existent sind, da sie nur in Abhängigkeit von anderem entstehen. Würden die Dinge unabhängig voneinander wirklich existieren, müsste alles gleichbleibend und dauerhaft sein. Einerseits sind die Dinge leer, andererseits erleben wir alles mögliche; Phänomene und Situationen entstehen, bestehen und vergehen auf verschiedenste Weise.
Dabei entsteht alles in Abhängigkeit von anderem: Eine Bedingung bringt eine andere hervor, und dieser Umstand führt zum nächsten. Eine Blume z. B