Der dritte Lehrzyklus: Vajrayana-Buddhismus und Ethik in der modernen Welt
In dieser so vernetzten Welt, ist Ethik wichtiger als je zuvor. Auf gewisse Weise repräsentieren wir alle als Schüler des Buddha seine Lehren in der Welt. Jeder kann über diesen Lehrer oder jene Sangha, das heißt die Gemeinschaft der Praktizierenden, durch wenige Mausklicks oder eine Google-Suche etwas erfahren. Das ist gut, weil es die ganze Tradition transparenter macht. Ethisches Verhalten – oder Fehl-Verhalten – ist sichtbarer als früher.
Es sollte selbstverständlich sein, dass wenn von Schulen, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen erwartet wird, sich gemäß eines ethischen Kodex und der Gesetze eines Landes zu verhalten, spirituelle Organisationen vorbildlich in ihrem ethischen Verhalten sein sollten. Die Lehrer sogar noch mehr. Durch die ganze Geschichte war genau das eine der wichtigsten Rollen für buddhistische Lehrer und die buddhistische Sangha. Sie vermittelten durch ihr Vorbild das ethische Verhalten genau den Gemeinschaften, denen sie dienten.
Der Vajrayana-Buddhismus gilt Tibetern als kostbarer Schatz. Er ist unser spirituelles Erbe und unser Geschenk an die Welt. Nun, da sich die Lehren und Praktiken dieser Tradition über die ganze Welt verbreiten, ist es wichtig, diese Tradition und ihre machtvollen Lehren zu verstehen. Es ist der Kern der Vajrayana-Tradition, die reine Sichtweise zu verkörpern.
Wir betrachten unsere Gedanken und Emotionen – sogar die schwierigen – als Manifestationen des zeitlosen Gewahrseins. Wir sehen jede Person als Buddha und wir behandeln sie auch so. Wir sehen die Welt, in der wir leben, als reinen Bereich, erleuchtet, so wie sie ist. Die Tradition, jeden und alles so zu behandeln, als würden wir dem Buddha von Angesicht zu Angesicht begegnen, ist die Hauptpraxis des Vajrayana. Sie ist das Herzblut unserer Tradition und der höchste ethische Standard, den man anstreben kann. In diesen Tagen und in dieser Zeit, in der wir von Verwirrung und Streit umgeben sind, braucht die Welt dies mehr als je zuvor. (Minjur Rinpoche)
Die Übermittlung der Vajrayana-Lehren vom Lehrer an den Schüler
von Chögyam Trungpa Rinpoche
Übermittlung der Dharma-Lehren und der dazu erforderlichen Einweihungen bzw. Erklärungen, bedeutet die Ausweitung spiritueller Wachheit von einer Person auf eine andere. Wachheit wird eher ausgeweitet als übertragen. Der Lehrer oder Übermittler weitet seine eigene Inspiration aus. Er gibt seine Erfahrung aber nicht an jemanden weg, um dann zu einem leeren Ballon zu werden. Der Lehrer erzeugt ständig Wachheit und Inspiration ohne jemals leer zu werden.
Für den Schüler ist Übermittlung also, als ob er mit Strom aufgeladen wird. Bevor wir die Übermittlung erörtern können, scheint es nötig, einen Schritt zurückzugehen und unser Niveau der geistigen Gesundheit und Disziplin zu untersuchen. Wir müssen untersuchen, was wir in unserer Beziehung zur Welt erreicht haben. Wenn wir es nicht geschafft haben, eine Beziehung zu unseren Leiden, unseren Frustrationen und Neurosen herzustellen, ist die Durchführbarkeit der Übermittlung weit entfernt, äußerst weit entfernt, da wir noch nicht einmal eine angemessene Beziehung zu der grundlegendsten Stufe unserer Erfahrung hergestellt haben.
Der Lehrer könnte sagen: »Vergesst all das. Vergesst euren Schmerz und euer Leiden; es wird alles prima sein.« Er könnte euch alle möglichen Gegenmittel geben: Beruhigungsmittel, Mantras und Tricks. Er könnte sagen: »Bald werdet ihr euch gut fühlen. Bald werdet ihr euren Schmerz vergessen und ihr werdet ganz in Ordnung sein.«
Das wäre aber eine ungeheure Lüge und auf lange Sicht gesehen ist solch ein Verhalten engstirnig und für den spirituellen Pfad äußerst zerstörerisch. Es ist so, als ob wir unseren Kindern jedes mal, wenn sie sich schlecht benehmen, Beruhigungsmittel geben, so dass sie einschlafen. Es erspart uns zwar Unannehmlichkeiten wie z. B. einen Babysitter aufzutreiben und Windeln zu wechseln, aber das Kind wird zu einer lebenden Leiche.
Wir müssen zugeben, dass das unmenschlich ist, und genauso primitiv ist es, jemandem ein spirituelles Beruhigungsmittel zu geben. Wir leiden schrecklich, wenn wir mit Spiritualität so umgehen, und wir werden später dafür bezahlen müssen. Ungeheure Probleme entstehen — Groll und Unzufriedenheit. Man könnte versuchen, jemandem Spiritualität darzulegen, in dem man ihn auffordert, Probleme einfach zu vergessen. Wir sollen so tun, als ob sie außerhalb des Kreises der spirituell Eingeweihten liegen. Wir sollen all unsere Negativität vergessen, keine Fragen stellen und uns einfach fallen lassen.
Jemand sagt uns vielleicht, dass es uns innerhalb von vier Wochen gut gehen wird, wenn wir uns einer bestimmten Praxis oder einem bestimmten Weg verpflichten: wir werden für immer frei und heil sein. Wir versuchen es, und es funktioniert — aber nicht für immer. Nach längstens sechs Wochen oder vielleicht nach nur zehn Tagen beginnen wir, auf den Boden zu kommen, und dann geraten wir in Panik und fragen uns, was vor sich geht.
Für gewöhnlich geben sich die gläubigsten Schüler selbst die Schuld, sie nehmen an, falsch vorgegangen zu sein: »Ich muss ein Problem haben, das ich noch nicht ganz geklärt habe.“ Aber das Problem liegt in der Art und Weise, wie sie in ihrer spirituellen Praxis indoktriniert wurden. Wir nehmen das, was uns dargeboten wird, mit offenem Geist auf, und das ist wunderbar, aber dann bewährt sich dessen Wahrheit nicht. Es gibt also ein Problem bei der spirituellen Übermittlung, und zwar, wie wir eine wirkliche Übermittlung von einem fähigen Meister in unseren Organismus bekommen können.
An dieser Stelle sprechen wir lediglich von der Anfängerstufe und den Vorbereitungen, die in einem sehr frühen Stadium notwendig sind, damit spirituelle Übermittlung geschehen kann. Es ist nötig, dass wir unsere gesamte kritische Einstellung gegenüber dem, was wir tun schärfen. Dieser Zynismus schafft eine Grundlage für unser Lernen und unsere Arbeit. Wenn wir zum Beispiel eine Brücke bauen, beginnen wir mit der Konstruktion des Gerüsts. Ob es aus Holz oder Eisenstangen besteht— das Gerüst muss errichtet werden, bevor wir den Beton aufschütten. Es ist absolut notwendig, dass wir diese Art von analytischer, hinterfragenden Einstellung haben, wenn wir uns anschicken, eine Brücke zu bauen.
Wir müssen unsere Haltung ständigen Hinterfragens verstärken und dürfen unsere Intelligenz nicht verleugnen, die ein echter Teil unserer Entwicklungsmöglichkeiten als Schüler ist. Wenn man Schüler zwingen würde, ihre Fragen fallen zu lassen, würde man Heere von Leblosen schaffen, Reihen von nebeneinander hockenden Quallen. Es ist wichtig, absolut wichtig, dass wir einen wunderbar definierten, kritischen Hintergrund für das, was wir mit uns selbst tun und was die Lehre mit uns macht, schaffen. Ohne diesen kritischen Hintergrund können wir nicht einmal die leiseste Ahnung oder den Geschmack von Erleuchtung entwickeln.
Erleuchtung gründet sich sowohl auf Prajna, das unterscheidende Gewahrsein, als auch auf Mitgefühl. Aber ohne Zynismus haben wir weder das eine noch das andere. Wir haben kein Mitgefühl für uns selber, da wir nach etwas außerhalb von uns suchen und den besten Weg finden wollen, es zu bekommen. Wir haben auch keinerlei Prajna oder Klarheit. Wir werden völlig leichtgläubig, und wir neigen dazu, uns in Dinge hineinziehen zu lassen, ohne überhaupt irgendwelches Verständnis zu besitzen.
Übermittlung ist wie der Empfang eines spirituellen Erbes. Um unsere spirituelle Disziplin zu erben, um ein gutes Erbe zu haben, sollten wir würdige Gefäße werden. Übermittlung verlangt den dynamischen Ausdruck der Emotionen des Schülers. Als Schüler sind unsere Aggression, unsere sinnliche Begierde und unsere Dummheit mit einbezogen. Gemäß dem Vajrayana kann mit allem Erdenklichen, die Emotionen mit eingeschlossen, gearbeitet werden.
Tatsächlich kann sich Übermittlung ohne Emotionen nicht ereignen, da sie Teil der Nahrung der Verwandlung sind. Und da sie so kraftvoll und machtvoll sind, wollen wir keine von ihnen ausschließen. Solange wir unsere Philosophie und unsere Begriffe von Sittlichkeit von unseren Emotionen fernhalten, gibt es kein Problem. Das bedeutet nicht, dass wir völlig zügellos sein sollten, anscheinend frei von Philosophie, Sittlichkeit und Ethik, sondern, dass ständig unabhängig existierende Ethik da ist.
Um Übermittlung zu erhalten, ist es absolut notwendig, ein gewöhnlicher Mensch zu sein: verwirrt, dumm, lüstern und zornig. Ohne diese emotionalen Eigenschaften können wir keine Übermittlung erhalten. Sie sind absolut notwendig. Ich glaube nicht, dass das eine besonders schwierig zu erfüllende Anforderung ist. Jedermann scheint eine ziemlich saftige Ladung davon zu haben. Unsere Emotionen werden als die Leitung oder als der Stromreis betrachtet, der Übermittlung empfängt. Wir könnten sagen, dass wir drei Drähte haben — einen für Leidenschaft, einen für Aggression und einen für Naivität, Unwissenheit oder Faulheit. Diese drei bilden ein sehr belebtes elektrisches Netz, das Übermittlung empfangen möchte. Wir sind hungrig danach.
Die Natur der Gottheiten im Vajrayana-Buddhismus
aus “Erzeugung und Vollendung”, von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, ein Kommentar von Khenchen Thrangu Rinpoche
Wenn wir eine Gottheit visualisieren, dann visualisieren wir etwas, das ein Abbild unserer eigenen Buddha-Natur ist, und dieselben Eigenschaften hat. Indem wir das tun, machen wir uns mit der Buddha-Natur vertraut und ermöglichen es daher dieser Buddha-Natur in uns, sich zu enthüllen.
Wir sollten uns über die Natur der Gottheiten im Vajrayana ganz klar sein, insbesondere weil es scheint, dass wir diese in manchen Praktiken fast völlig ,externalisieren‘. Wir sollten sie jedoch vorrangig als etwas Inneres ansehen, als etwas, das uns innewohnt. Zuerst muss jedoch eine Unterscheidung gemacht werden zwischen dem Verständnis einer Gottheit in einer nicht-theistischen Tradition, wie dem Buddhismus, und in einer theistischen Tradition, wie dem Hinduismus. In Hindu-Traditionen, die mit der Ikonographie von Gottheiten arbeiten, werden diese Gottheiten als extern angesehen, und ihre wesentliche Rolle ist die der Schöpfer des Universums. Hindus glauben, dass diese Gottheiten die Macht haben, sowohl Glück als auch Leid auszulösen. Wenn man diese Gottheiten erfreut, dann haben sie die Macht, uns zur Befreiung zu führen und alle möglichen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Verwirklichungen zu gewähren. Daher besteht die Praxis in diesen Traditionen darin, zu diesen Gottheiten mit tiefstem Glauben und Hingabe zu beten und ihnen Opfer darzubringen, in dem Verständnis, dass sie uns Verwirklichung gewähren, wenn sie erfreut sind, und zornig werden, wenn sie nicht erfreut sind, und sie uns tatsächlich in die niederen Bereiche werfen können. Das buddhistische Verständnis von Gottheiten ist völlig anders. Zunächst einmal ist das Verständnis der buddhistischen Tradition, dass Glück und Leid aufgrund der eigenen früheren Taten entstehen, und dass kein anderes Wesen eine Erfahrung für jemanden herbeiführen kann, die man nicht bereits selbst karmisch verursacht hat. Was wir erfahren, entsteht aufgrund unserer eigenen früheren Handlungen und Wahrnehmungsgewohnheiten. Letztlich kann uns von einem buddhistischen Standpunkt aus keine Gottheit Siddhi oder Verwirklichung verleihen. Wir erreichen Verwirklichung durch das Entfernen der Trübungen unserer innewohnenden Weisheit. Daher behaupten wir in der buddhistischen Tradition nicht, dass Verwirklichung uns tatsächlich aufgrund der Laune einer externen Gottheit gewährt wird. Andererseits gibt es auch Traditionen, die sagen, dass es keinerlei Hilfe von außen gibt, dass der Pfad ausschließlich in der eigenen inneren Arbeit besteht, und das Anrufen erleuchteter Wesen bedeutungslos ist. Aber das entspricht auch nicht genau der buddhistischen Sicht, denn auch wenn es wahr ist, dass kein Buddha uns das Ergebnis dieses Pfades verleihen kann, so kann er doch helfen. Die erste der drei Wurzeln (Guru, Yidam, Dharma-Schützer), oder der drei Quellen der Vajrayana-Praxis ist der Guru, der die Wurzel des Segens ist. Wenn wir zum Beispiel an unser jetziges Leben denken: Bis zu einem gewissen Punkt hatten wir keinerlei Kenntnis des Dharma. Dann haben wir durch eine Reihe von Umständen einen Guru oder Lehrer getroffen und Belehrungen erhalten; durch das Vertrauen in ihn und seine Inspiration, hat sich etwas bei uns verändert: Das wird der ,Segen des Dharma‘ genannt. Vorher wussten wir nicht, was Dharma ist, und danach wussten wir es. Vorher wussten wir nicht, wie wir praktizieren sollen, und danach wussten wir es. Viele Dinge haben sich als Ergebnis davon verändert. Vielleicht hatten wir kein Vertrauen in den Dharma und haben dann dieses Vertrauen entwickelt. Wir hatten keine Hingabe und diese haben wir erst danach entwickelt. Wir konnten dann auch mehr Mitgefühl als vorher empfinden. Unsere Meditation hat sich verbessert. Nun, genau genommen ist uns keiner dieser Aspekte von unserem Guru gewährt worden, aber nichtsdestotrotz passiert etwas im Umfeld unserer Beziehung mit dem Guru und das ist es, was wir den Segen des Dharma nennen. Diese Veränderung ist leicht zu verstehen, denn sie hat zu tun mit unserer Beziehung und Interaktion mit jemandem, den wir getroffen haben, mit einem anderen Menschen. Aber wir rufen auch die Gurus der Vergangenheit an, Gurus, die wir nicht getroffen haben und die für uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sichtbar sind. Wenn wir diese daher anrufen, können sie uns zwar, so wie der Guru jetzt, keine Verwirklichung oder Ergebnisse verleihen, sie können jedoch, wie unser Lehrer, Einfluss auf uns ausüben und uns helfen. Es ist dabei jedoch nicht so, dass sie durch die Anrufung erfreut sind und sich deshalb dafür entscheiden, ihren spirituellen Reichtum mit uns zu teilen. Es ist eher so, dass die Hingabe, die wir bei der Anrufung entwickeln, bewirkt, dass dieser Segen einfach passiert. Daher kann der Guru uns auch dann noch Segen zuteil werden lassen, wenn er oder wir in unserer Wahrnehmung nicht physisch präsent ist.