Kagyu – Die Übertragung der Meisterschaft
Aus dem Buch von Ken Holmes über Karmapas
Das Erbe Tilopas
Der Mahayana-Buddhismus vertritt die Meinung, dass Shakyamuni bereits erleuchtet war, bevor er als Prinz Gautama vor über 2500 Jahren geboren wurde. Das Leben des Buddha auf dieser Erde ist nach dieser Lehre nur eine Folge seiner Erleuchtung, ein notwendiges Drama in zwölf Akten, von denen jeder Akt — auch das „Erlangen“ der Erleuchtung — beim Übermitteln seiner zeitlosen Botschaft der universellen Wahrheit in unsere Welt eine äußerst wichtige Rolle spielte.
Jede der zwölf Stufen diente dazu, seine Lehren für die nächsten Jahrtausende gut zu verankern, und jede trug etwas zur Belebung bei, die er unserem Planeten ermöglichte. Die Ankunft eines lehrenden Buddha trifft mit einem Schlüsselmoment im Schicksal der Welt und dem komplexen Wiedergeburtszyklus ihrer Bewohner zusammen.
Das Ausführen der zwölf Taten stellt den Weg dar, den jeder der 1002 Buddhas, die unsere Erde besuchen, beschreitet, um das Rad der Wahrheit in Bewegung zu halten, bevor der Planet schließlich von der Sonne verbrannt werden wird. Das edle, beispielhafte Leben, welches sie in solchen Zeiten führen, wird die höchste Emanation, oder Verkörperung, genannt — das höchste Nirmanakaya.
Die zwölf Stufen sind:
- den Himmel verlassen und sich auf der Erde zum günstigsten Zeitpunkt manifestieren;
- sich in den Leib einer Frau begeben, um in einer Familie wiedergeboren zu werden, welche die besten Bedingungen für das künftige Leben bietet;
- auf wunderbare Weise geboren werden;
- aufwachsen und dabei einzigartigen körperlichen Mut und Intelligenz zeigen;
- sich einer Ehefrau erfreuen und die erlesensten Vergnügungen genießen, die das weltliche Leben bieten kann;
- die weltlichen Freuden hinter sich lassen;
- Askese strenger üben als irgendein Mensch zuvor, und diese dann als unzulängliches Mittel aufgeben;
- sich an den Ort begeben, an dem alle Buddhas dieser Welt ihre Erleuchtung erlangen;
- dort die negativen Energien der Welt überwinden;
- den Mittleren Weg erkennen und Erleuchtung erlangen;
- die universellen Wahrheiten lehren und
- ins Nirwana eingehen.
Wenn Gautama nicht ein reicher, gutaussehender Prinz gewesen wäre, nicht schönere Frauen gehabt hätte als andere Männer, nicht ein besserer Sportler und Student gewesen wäre, wie hätte er später als Gautama Buddha glaubwürdig versichern können, dass weltliche Besitztümer nicht alles sind? Wäre er nur ein armer Yogi gewesen, hätten ihm viele vorwerfen können, er behandle die weltlichen Freuden, die er nie gekannt habe, wie saure Trauben. Wie hätte er Menschen davon überzeugen können, dass Selbstkasteiung unnötig sei, hätte er nicht selbst gefastet und ohne zu trinken in der brennenden indischen Mittagshitze gesessen, und das alles in einem von niemandem übertroffenen Ausmaß! Jeder Aspekt im Leben des Buddha ist von großer Bedeutung. Es ist nicht einfach das letzte vollkommene Leben eines Wesens, welches sich die Reinheit während Hunderter von Inkarnationen erarbeitet hat, sondern ein vollkommenes Lehrstück, eine Schablone für kommende Zeitalter, ein Bezugspunkt, an dem sich alles Zukünftige messen lässt. Der höchste Nirmanakaya des Buddha segnete diese Welt vierundachtzig Jahre lang. Doch während einer Periode von fünftausend Jahren, die er durch seine Erleuchtung beeinflusst, bleibt er in anderer Form ständig gegenwärtig, um jene zu lehren, deren Geist rein und offen genug ist, um sich dessen bewusst zu sein. Dabei kann es sich um Emanationen handeln, um andere Nirmanakayas, das heißt uns zugängliche und für uns wahrnehmbare Verkörperungen, als dem des Höchsten, die von Zeit zu Zeit auf die unterschiedlichste Weise belebt und unbelebt erscheinen, um den Menschen und allen anderen Wesen zu helfen.
Darüber hinaus existiert seine ständige lehrende Gegenwart, die so rein und unmittelbar kraftvoll ist, dass nur das Bewusstsein erfahrener Bodhisattvas der zehnten Ebene verfeinert, von Geistesgiften gereinigt und stark genug ist, um sich dessen bewusst zu sein. Dieses Bewusstsein wird Sambhogakaya genannt und beschreibt einen Zustand geistiger Verklärung, der nicht länger von den Verwirrungen weltlicher Unwissenheit verunreinigt wird. In diesem Zustand ist jede Schau und jeder Ton mit tiefer, freudiger Bedeutung aufgeladen. Eine solche Erfahrung besteht aus vielen tausend vollkommenen und sinnvollen Möglichkeiten der Erkenntnis der allumfassenden universellen Weisheit der Erleuchtung. Diese Erfahrungen werden reine Länder, reines Erleben genannt.
Obwohl die Buddhaschaft und ihre Weisheit erst dann unmittelbar erfahren werden können, wenn man die vollkommene Erleuchtung erlangt hat und tatsächlich zum Buddha geworden ist, erleben die Bodhisattvas diesen Zustand indirekt durch die Tore ihres Bewusstseins und ihrer Sinne in Form von visionären Einsichten. Weit entfernt vom Leiden und doch inkarniert, um den Leidenden zu helfen, tief verwurzelt in Frieden und Weisheit, genährt von der stets wachsenden Vision der Vollkommenheit, erfreuen sie sich der herrlichsten Verbindung zur Erleuchtung. Der Begriff Sambhogakaya bedeutet „vollkommener Zugang, vollkommene Freude“. Neben jenen Überlieferungen der Lehre, die aus der Zeit des höchsten Nirmanakaya Shakyamunis vor fünfundzwanzig Jahrhunderten in Indien stammen, existieren einige Schriften aus seinem Sambhogakaya, die von erleuchteten Bodhisattva-Lehrern im Laufe der Jahrhunderte niedergeschrieben wurden. Dies ermöglicht dem Geist des Buddha, der Welt dann Lehren zu senden, wenn sie benötigt werden, um auf die sich verändernden Bedürfnisse einzugehen. Tilopa war ein solcher erleuchteter Bodhisattva. Nachdem er die Bedeutung der Lehren von mehr als hundert der fortgeschrittensten buddhistischen Gurus seiner Zeit zusammengetragen und geistig durchdrungen hatte, erlangte er die vollkommene Erleuchtung und vereinte sich untrennbar mit der Bewusstseinsform Buddhas.
Marpa
Marpa, der im Jahre 1012 im südlichen Zentraltibet geboren wurde, ist der erste tibetische Meister der Kagyu-Tradition, die deshalb häufig ihm zu Ehren Marpa-Kagyu genannt wird. Er sollte auch der erste Meister sein, der sich immer wieder in seiner Übertragungslinie verkörperte.
Man glaubt, dass Marpa in früheren Leben in Indien die Mahasiddhas Dombipa, Sri Simha und Darikapa gewesen ist. Im achten Jahrhundert war er in Tibet jener Astrologe, der den Standort für das Kloster Samye auswählte. Später wurde er als Dharma Semang wiedergeboren, einer von Guru Rinpoches Sekretären, der Termas schrieb und die „zornvollen“ Übungen meisterte. Während der Erneuerung des Dharma im elften Jahrhundert inkarnierte er als Marpa und danach als andere Meister, einschließlich des berühmten Taranatha.
In der Kagyu-Tradition inkarnierte er sich außer als Marpa als folgende Lehrer: – als Drogon Rechen, dem der erste Karmapa seinen Prophezeiungsbrief übergab; – als Yeshe Ö, der Schüler des zweiten Karmapa, der das verborgene Land Sari entdeckte; – als der Halter der goldenen Linie Ratnabhadra, der Guru des vierten Karmapa, und als Choji Gyaltsen, dem der chinesische Kaiser Yung Lo (Ch’eng Tsu) im frühen fünfzehnten Jahrhundert den Titel „Tai Situ“ gab. Seitdem sind seine Inkarnationen als Tai Situpa bekannt.
Marpas Entschlossenheit war bereits als Kind sehr stark. Um buddhistische Lehren für sein Land zu sammeln, unternahm er drei Reisen nach Indien. Dies war zu jener Zeit keine geringe Leistung, da die Reisen riskant und der Gesundheit abträglich waren. Um für Tibet das gute Karma zu erwirken, welches die sichere Verwurzelung der Lehren dort garantieren würde, verbrachte er viel Zeit damit, von seinen Landsleuten Opfergaben zu sammeln, die er den indischen Meistern darbringen wollte. Da er seine Aufgabe, Lehren zu erhalten und zu übersetzen, wirklich gut lösen wollte, lebte er drei Jahre in Nepal, um sich an Feuchtigkeit, Hitze und die geringe Höhe zu gewöhnen. Während dieses Aufenthaltes lernte er mehr als dreißig indische Dialekte.
Sein Hauptlehrer in Indien war Naropa. Er studierte sechzehn Jahre und sieben Monate unter dessen Führung und erhielt während dieser Zeit die vollständige Übermittlung alles dessen, was Naropa von Tilopa erfahren hatte. Darüber hinaus schickte ihn Naropa zu anderen Gurus, besonders zu Maitripa, Jnanagarbha, Kukuripa und der Weisheitsdakini von Sosarling. Von jedem dieser Lehrer erhielt Marpa dessen besondere Dharma-Übermittlung: die vollkommenen Geisteslehren des Mahamudra, Guhyasamaya, Mahamaya und Dorje Denshi. Obwohl Naropa ihm diese Übertragungslinien auch selbst hätte vermitteln können, hielt er es für besser, dass Marpa die einzelnen Praktiken bei denjenigen lernte, die sie in seiner Zeit am allerbesten meisterten. Die Lehren, die Marpa so nach Tibet brachte, sollten in höchstem Maße mit dem Segen der jeweiligen Übertragungslinie aufgeladen sein. Von Naropa erhielt er das Hevajra Tantra und dessen besondere Techniken — die von Tilopa gelehrte Essenz des Vajrayana —, darüber hinaus noch die vollständige Übermittlung des Chakrasamvara-Tantra. Dabei beschränkte sich Marpa natürlich nicht auf das reine Studieren, sondern praktizierte und verwirklichte die Lehren, einschließlich zahlreicher anderer Vajrayana-Belehrungen. Naropa half Marpa besonders dabei, die begrifflichen Vorstellungen aufzubrechen, die seine vollständige Befreiung blockierten, und brachte ihn damit zur vollkommenen Erleuchtung. In der Einheit der Erleuchtung teilte er den unermesslichen Schatz seines Bewusstseins mit Marpa.
Naropa machte Marpa zu seinem Dharma-Statthalter in Tibet und vertraute ihm die Aufgabe an, einem ganz außergewöhnlichen Wesen, Milarepa, zur Erleuchtung zu verhelfen. Man sagt, dass sich Naropa selbst gen Tibet verneigte, als Marpa ihm von seinem Schüler Milarepa berichtete. Marpa hatte immer gehofft, dass sein eigener Sohn, Dharma Doday, sein geistiger Erbe werden würde, doch Naropa erklärte ihm, dass dies nicht so sein werde. Die Kagyu-Tradition beruht nicht auf einer durch Familiendynastien abgesicherten spirituellen Erbfolge, wie es in Tibet früher — und teilweise auch heute noch — bei bestimmten Übertragungslinien der Fall ist. Tatsächlich fiel der zweite Karmapa dem chinesischen Kaiser deshalb auf, weil er sich, unabhängig von einer ihn stützenden Familie, selbst bestimmte. Das chinesische Reich war es zu jener Zeit müde, über lange Zeiträume endlos viele Geschenke an religiöse Familiendynastien schicken zu müssen, die seiner Ansicht nach viel zu mächtig wurden.
Nachdem Marpa auf seinen drei Reisen insgesamt einundzwanzig Jahre in Indien gelebt hatte, verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens in Tibets damit, die von ihm gesicherten Lehren gründlich im Lande zu verankern. Er hatte vier hochbegabte Schüler, von denen sich jeder in einem anderen Bereich hervortat. Doch sein Haupterbe, der alles so von ihm erhielt, wie er es von Naropa empfangen hatte, war Jetsun Milarepa.