Gedanken zum wertvollen menschlichen Leben – Sonja Molitor
ein Beitrag von Sonja Molitor
Wenn wir nicht schlafen können, scheint die Nacht nie zu Ende zu gehen. Wir wälzen uns von einer zur anderen Seite, schauen auf die Uhr – es sind nur zwei Minuten vergangen. Diese Nacht dauert eine Unendlichkeit, bis endlich Morgen ist. Eigentlich wissen wir, dass diese Nacht eben nicht unendlich andauert, wir wissen, dass der nächste Sonnenaufgang nicht mehr fern ist – und doch drehen wir uns ungeduldig im Bett hin und her. Wir wünschen uns ein schnelles Ende der Schlaflosigkeit herbei, entweder, indem wir endlich wieder einschlafen oder durch den Anbruch des neuen Tages.
Was aber, wenn diese eine Nacht die einzige Zeit wäre, die wir hätten, um unserem Leben Sinn zu geben? Würde sie uns dann immer noch unendlich erscheinen? Wäre diese Nacht dann wertlos oder würde sie kostbar für uns? Meistens nehmen wir unser Leben als eine Selbstverständlichkeit hin: Wir sind als Menschen geboren, das ist eben so. Aber dieses Leben, dieser menschliche Körper ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis aus Verdiensten früherer Leben. Dieser menschliche Körper gibt uns die Fähigkeit, den Dharma zu studieren und zu praktizieren. Andere Wesen sind in unvorteilhaftere Zustände hineingeboren, so dass sie diese Gelegenheit nicht haben. Die Höllenwesen leiden unter Hitze und Kälte; die Geister werden von Hunger und Durst gequält; Tiere sind wegen ihrer Verwirrtheit nicht zum Verständnis des Dharma fähig; langlebige Gottheiten sind durch weltliche Vergnügungen und die Erfahrung des Samadhi (Einspitzigkeit des Geistes während der Meditation) abgelenkt; „Barbaren“ (wie Jamgon Kongtrul sie nennt) leben in vom Buddhismus nicht erreichten Gebieten; Häretiker vertreten eine falsche Auffassung oder haben eine Abneigung gegenüber dem Dharma; in einem dunklen Zeitalter Geborene haben gar keinen Zugang zum Dharma, da es keinen Buddha gibt, der den Dharma lehrt; wer körperlich und geistig so beeinträchtigt ist, dass er weder Dharmabelehrungen hören noch verstehen kann, hat auch keinen Zugang zur Lehre.
Möglicherweise erscheinen die Schilderungen mancher Daseinsbereiche etwas fantastisch. Die Leiden der Höllenwesen, Geister und Tiere kann man bei der Reflexion allerdings auch in unserem Leben ausmachen. Körperliche Leiden durch Hitze und Kälte kennen wir alle (schließlich beklagen wir uns bei jeder Hitzewelle und können an fast nichts anderes mehr denken als uns Kühlung zu verschaffen) oder wir können uns vielleicht vorstellen, welche schrecklichen Qualen man in der Hitze eines Feuers erleiden müsste. Auch die Anhaftung an weltliche Genüsse, die die Geister quält, ist uns allen aus eigener Erfahrung bekannt. Und wenn wir einmal ganz kritisch mit uns selbst sind, so sehen wir unter Umständen auch, dass wir in mancher Hinsicht wie Tiere aus Angst lieber in der „Herde“ bleiben und eher unseren Angewohnheiten folgen als eine Veränderung herbeizuführen, die wir in der Reflexion als wichtig erkannt haben.
Die weltlichen Vergnügungen, denen die langlebigen Gottheiten sich widmen, sind bestimmt jedem von uns ein Begriff: Wer hat nicht gern eine gute Zeit, genießt Unbeschwertheit und Sorgenlosigkeit? Warum allerdings Samadhi, Leiden hervorrufen kann, das benötigt genauere Betrachtung. Die Erfahrung der Einspitzigkeit des Geistes führt bei den Gottheiten dazu, dass sie diesen Zustand des dauerhaften Friedens nicht mehr verlassen wollen – dies ist aber für eine Weiterentwicklung notwendig. Die rechte Konzentration auf eine Sache ist ein Werkzeug zur Erkenntnis und nicht das Ziel. Den langlebigen Gottheiten geht es auf den ersten Blick gesehen gut, denn ihr Leiden entsteht erst dann, wenn sie durch eine Wiedergeburt in einen niedrigeren Daseinsbereich nicht wieder dieselben Erfahrungen machen können. Für uns ist aber vermutlich gut vorstellbar, dass man nach einer besonders schönen oder erhellenden Erfahrung genau diesen Zustand immer wieder herbeiführen möchte, darüber aber den Sinn dieser Erfahrung vernachlässigt und umso mehr leidet, wenn man das Erlebte nicht wiederherstellen kann. Unter „Barbaren“ braucht man nicht nur Menschen zu verstehen, die in Gebieten leben, die vom Dharma unberührt sind. Wir können sie möglicherweise in unserer Nähe finden: Menschen mit irriger Sichtweise, ohne Liebe, Güte und Fürsorge könnte man genauso gut als Barbaren bezeichnen. Ein Schlachthof ist auch als ein barbarisches Umfeld vorstellbar. Häretiker oder Tirthikas haben keinen Glauben an Wiedergeburt und Karma, für sie ist eine Veränderung des Geistes sehr schwer. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass jeder im Laufe seines Lebens ein Häretiker werden kann. Reflexion und Austausch mit anderen ist unabdingbar, wenn man Klarheit über sich und die eigene Haltung haben möchte – ein Häretiker strebt diesen Austausch nicht an, seine geistige Haltung ist unflexibel und festgefahren.
So betrachtet bedeutet das menschliche Leben zunächst einmal Leiden, doch es ist darüber hinaus auch überaus schwer zu erlangen. Jamgon Kongtrul verdeutlicht dies so: „Alle fühlenden Wesen haben die natürliche Neigung zu schädlichem Handeln; nur wenige handeln nützlich. Selbst bei diesen wenigen ist die Fähigkeit zu ethischem Verhalten, das zur Erlangung eines menschlichen Körpers notwendig ist, sehr selten. Als Folge davon sind die Wesen der drei niederen Daseinsbereiche [Höllenwesen, Geister, Tiere] ebenso zahlreich wie die Erdkörnchen im Boden, während Götter und menschliche Wesen überaus selten sind.“
Es ist also ein unendliches Glück, dass wir dieses menschliche Leben zur Verfügung haben. Darauf sollten wir allerdings nicht stolz sein, sondern es lieber sinnvoll nutzen. Diese Gelegenheit, den Dharma zu praktizieren und zu studieren, die uns das menschliche Leben bietet, sollten wir unseren Möglichkeiten nach mit der richtigen Motivation auch wahrnehmen, um etwas aus diesem Leben zu machen. Die Wiedergeburt als Menschen hält die besten Voraussetzungen zur Entwicklung für uns bereit, denn wir sind in der Lage, zu studieren und zu reflektieren. Diese Aufgabe ist nicht immer einfach, denn Veränderung und Entwicklung bedeutet auch Schmerz. Müssen wir vielleicht erkennen, dass die Motivation hinter unserer Großzügigkeit nicht uneigennützig ist? Ist es nötig, eine schwere Zeit erneut zu durchleben, um sich selbst oder anderen zu verzeihen? Warum bereitet es uns Schwierigkeiten, unparteilich allen Wesen, auch den unangenehmen, Glück zu wünschen? Wir müssen keine „Narren“ sein, für die Samsara lange dauert, denn wir sind als Menschen selbst verantwortlich für unser Tun, und wir haben durch den Dharma alle Mittel dazu, uns zum Wohle aller Wesen zu entwickeln.