Entwicklung von Mitgefühl
In den Rundmails geht es in letzter Zeit meist um die Entwicklung von Mitgefühl, bzw. dem Erleuchtungsgeist oder Bodhicitta. Warum dies so wichtig ist, drückt HH. 17. Karmapa im Vers 11 des Textes der 37 Praktiken eines Bodhisattvas sehr treffend aus:
Alles Leid kommt davon, Glück für uns selbst zu wollen. Vollkommene Buddhas gehen aus der Geisteshaltung hervor, auf Wohl und Nutzen anderer bedacht zu sein. Unser Glück gegen das Leid anderer auszutauschen ist die Praxis eines Bodhisattva.
Warum ist es wahr, dass alles Leiden dieser Welt daher rührt, dass wir uns nur Glück für uns alleine wünschen? Wenn wir uns nur auf unsere eigene Bequemlichkeit und unser Glück konzentrieren, werden wir ichbezogen und überheblich, und früher oder später führt das zu Leiden. So viel ist uns allen klar. Aber wenn wir sagen, anderen Glück zu wünschen, bringt uns selbst Glück, wen meinen wir dann mit den „anderen“? Eine naheliegende Antwort darauf ist: alle Lebewesen außer uns selbst. Wir können auch beobachten, dass das Leben auf keinen Fall weitergehen kann ohne den Ablauf von Geben und Nehmen zwischen allen diesen Lebensformen. Unser eigenes Atmen ist ein Beispiel dafür. Was wir ausatmen, ist gut für einige andere Lebewesen, und was sie ausatmen, ist wiederum gut für uns. Lebewesen sind auf verschiedene Weisen voneinander abhängig. Leben hängt vom Geben ab: wir geben und empfangen deshalb. Diese gegenseitige Abhängigkeit ist natürlich. Es erfordert jedoch eine besondere Anstrengung, unseren Geist so zu trainieren, dass er dies gut genug weiß, damit unser Verständnis klar und stark ist.
Es gibt keine plötzliche Transformation – auch nicht für den Karmapa. Auch er musste hart dafür arbeiten, sich zu verändern. Es erfordert harte Arbeit, ausdauerndes, intensives Studieren und ausdauernde Anstrengung, um unsere Motivation und unser Verhalten zu verändern.
Vergeben
Ein anderer Aspekt in Bezug auf Anhaften und Festhalten ist das Loslassen und Weggeben, auch das Vergeben. Hier einige Gedanken zum Vergeben.
Im Gegensatz zum materiellen Weg geht die spirituelle Praxis nicht davon aus, dass durch Anhäufen, Bekommen, Festhalten Glück zu erreichen ist, sondern durch Loslassen. Spirituelle Lehren aller Zeiten vermitteln uns, dass wir das, was wir oft unser ganzes Leben gesucht, aber nicht gefunden haben, längst in uns tragen. Liebe, Frieden, Erfüllung und Glücklichsein sind nicht Dinge, die wir erwerben könnten, sondern Daseinszustände, die unser inneres Wesen ausmachen. Es geht also im Leben nicht darum, möglichst viel zu bekommen, oder zu werden, sondern darum, möglichst viel loszulassen, vor allem natürlich das, was uns offensichtlich unglücklich macht. Ein wichtiger Teil auf diesem Weg ist die Übung des Vergebens – auch sie ist eine Form des Gebens und Loslassens. Vergeben hat etwas mit Hergeben, Erleichtern, sich befreien und Loslassen zu tun. Aber diese Übung fällt den meisten Menschen schwer. Wie für die Liebe, ist auch für das Vergeben der Hauptfeind der Hass oder die Abneigung. Oft glauben wir, wir müssten ablehnen, vielleicht sogar hassen, ja, dies sei sogar unsere Pflicht, um begangenes Unheil aus der Welt zu schaffen, oder für Gerechtigkeit zu sorgen.
Aber selbst wenn Hass oder Übelwollen gerechtfertigt scheinen, ist es doch offensichtlich, dass wir selbst die Hauptleidtragenden sind, und uns selbst am meisten verletzen. Wenn wir versuchen, glühende Kohlen auf jemanden zu werfen – wer verbrennt sich da zuerst und am stärksten? Übelwollen wird niemals durch Übelwollen überwunden, Verletzung nie durch Vergeltung, sondern nur, indem wir es durch das Gegenteil ersetzen.
Eine weitere große Schwierigkeit beim Vergeben ist das Anhaften am Schmerz, am begangenen Unheil. Interessanterweise haben wir alle die Tendenz, nicht nur an schönen Dingen und Erinnerungen festzuhalten, sondern auch an unserem Schmerz, unseren Problemen und Sorgen. Oft ist es sogar so, dass wir an dem, was uns am meisten schmerzt, am meisten festhalten.
Aus einer spirituellen Perspektive ist es absurd, am Schmerz festzuhalten, doch davon will das Ego nichts wissen. Das Ich und der Schmerz sind sehr eng miteinander verwoben. Wenn wir genau hinsehen, können wir sogar erkennen, dass Ichbezogenheit immer Schmerz oder Leid bedeutet. Das Ich scheint nicht mehr ganz so wichtig zu sein, wenn es keine Probleme, Sorgen und Schmerzen mehr hat. Auch Schuldgefühle sind etwas, an dem wir oft sehr anhaften, und sie sind in der Vergebenspraxis ein bekanntes und großes Thema. Sich schuldig zu fühlen, wird uns ja mehr oder weniger mit in die Wiege gelegt, und im Laufe des Lebens sammelt sich dann noch reichlich zusätzliches Material an. Spirituelle Praxis bedeutet aber nicht, sich für immer und ewig als Sünder zu fühlen, sondern unsere Unachtsamkeit, unsere Lieblosigkeit, unser unbewusstes Verletzen aus der Vergangenheit noch einmal ins Bewusstsein zu bringen, und es dann loszulassen, es zu vergeben. Gleichzeitig können wir den Entschluss fassen, unserer Mitwelt und uns selbst in Zukunft achtsamer und wohlwollender zu begegnen.
Vergeben in drei Schritten
- Schritt 1 Hier spüren wir in uns hinein, machen uns bewusst, ob es eine Person gibt, die uns Schmerz zugefügt, uns verletzt oder irritiert hat. Wenn ja, dann kann man versuchen, sich diesen Menschen oder die damalige Situation vorzustellen. Nun bittet man diesen Menschen ins eigene Herz, und sagt innerlich zu ihm: „Ich vergebe dir, was du mir an Schmerz oder Irritationen zugefügt hast, sei es bewusst oder unbewusst geschehen, sei es mit Gedanken, Worten oder Handlungen – ich vergebe dir.“
- Schritt 2 Hier erinnern wir uns daran, ob wir jemandem Schaden oder Schmerz zugefügt haben, oder mit jemandem unachtsam umgegangen sind; ob wir jemanden irritiert haben, nicht wahrgenommen, anerkannt oder wertgeschätzt haben. Wir laden dann diese Menschen in unser Herz ein, und bitten sie um Vergebung für die von uns zugefügten Verletzungen und Irritationen, seien sie bewusst oder unbewusst geschehen, in Gedanken, Worten oder Handlungen. Dann gilt es, auch wirklich loszulassen, und sich vorzustellen, dass diese Menschen die Vergebung annehmen oder davon berührt sind, dass wir uns um diese Herzenshaltung bemühen.
- Schritt 3 Hier können wir uns bewusst machen, wo wir uns selbst lieblos behandelt, uns Schmerzen zugefügt, in uns Irritationen verursacht haben, und ob wir uns abgewertet, uns klein und schlecht gemacht haben – ein Verhalten, das wir alle gut kennen. Es ist der Fehlerfindergeist, der nicht nur außen Fehler sucht und findet, sondern auch bei uns selbst. Wir sollten uns da fragen: Wozu soll das gut sein?
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass ein negativer, sich ständig tadelnder, kritisierender Geist nie glücklich sein oder werden kann. Wenn wir uns wohlfühlen wollen, dann müssen wir uns darum kümmern, dass unser Geist erfüllt, ist von Wohlwollen und nicht dem Gegenteil. Vergeben wirkt auch hier Wunder.
Ein Geist, der häufig mit Negativem beschäftigt ist, kann nie heil werden.