Dharma als Pfad
Confusion Arises as Wisdom – Ringu Tulku Rinpoche
Bei der Unterscheidung zwischen Mahayana und Shravakayana (Hinayana) sagen die Mahayanisten, der Unterschied sei der Grad des Mitgefühls. Das könnte so verstanden werden, dass das Shravakayana kein Mitgefühl hat oder keine liebende Güte für alle fühlenden Wesen lehrt.
Das ist nicht wahr. Das Gebet der vier unermesslichen Gedanken, das wir rezitieren, ist z.B. das wichtigste Bestreben von Bodhichitta und stammt aus dem Shravakayana. Es lautet: „Mögen alle fühlenden Wesen Glück und die Ursachen des Glücks haben. Mögen sie frei sein von Leiden und den Ursachen des Leidens. Mögen sie nicht von dem großen, leidfreien Glück getrennt werden. Mögen sie in großem Gleichmut leben, frei von Anhaftung an geliebte Menschen und Abneigung gegen die anderen.“ Dies ist eine allgemeine buddhistische Lehre, die als die vier Brahmaviharas bezeichnet wird. Es ist wichtig zu erkennen, dass Mitgefühl Teil aller buddhistischen Lehren und Praktiken ist. Wovon reden also die Mahayanisten? Ich denke, damit ist der Grad der inneren, eigenen Beteiligung gemeint. Wenn wir sagen: „Alle fühlenden Wesen sollen Glück haben und frei von Leiden sein“, dann ist das ein Wunsch. Wir wünschen uns sehr, dass die Welt von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut erfüllt sein möge. Aber der Unterschied im Mahayana ist, dass man sich persönlich dafür einsetzt, dass dies geschieht. Als Anhänger des Mahayana handeln wir auch nach diesem Wunsch.
Darin liegt der Unterschied. Wir können tatsächlich etwas für die Umsetzung von diesem Wunsch tun, unsere Dharma-Praxis wird zum eigentlichen Weg. Der eigentliche Weg besteht hauptsächlich darin, die sechs Paramitas zu praktizieren. Es geht mehr um die Art und Weise, wie man sein Leben lebt. Man übt sich in Meditation, Disziplin, Großzügigkeit und Geduld und lernt dabei, gegenseitige Abhängigkeit oder Interdependenz, Vergänglichkeit und Leerheit zu verstehen. Du lernst, deinen Geist unbeeinflusst sein zu lassen, wenn du möchtest, dass seine natürlichen Qualitäten zum Vorschein kommen. Deine Dharma-Praxis ist mit Mitgefühl, Liebe und Bodhichitta verbunden. Die Dharma-Praxis ist nicht etwas Zusätzliches, das man tun muss. Es ist die Art und Weise, wie wir in unserem täglichen Leben arbeiten und wie wir mit Menschen und Situationen in Verbindung kommen. Mit Weisheit weißt du, was du wirklich bist; du erkennst die Natur deines Geistes. Das Erwachen der Weisheit ist das Hauptziel der buddhistischen Praxis, denn wenn es geschieht, kommt die Befreiung aus Samsara. Samsara basiert auf Unwissenheit, oder dem Nichtwissen, was man eigentlich ist. Dies führt zu einer dualistischen Sichtweise von „Selbst“ und „Anderen“, die zu Ärger, Gier und allen Arten von emotionalen Problemen führt. Weisheit ist also eine wichtige spirituelle Qualität, denn sie überwindet vollkommen samsarisches Leiden.
Es braucht Zeit, um Weisheit zu entwickeln, daher werden verschiedene geschickte Mittel eingesetzt, um dir dabei zu helfen. Die geschickten Mittel sind Methoden, die dich von einer Stufe zur nächsten führen. Um zum Beispiel deinen Geist klarer zu machen, machst du Meditation und andere Arten von geistigem Training. Wenn dein Geist an Negativität gewöhnt ist, dann trainierst du deinen Geist in positive Richtung. Der eigentliche Pfad ist die Anwendung geschickter Mittel mit Weisheit und Mitgefühl.
Wenn du auf diese Weise mit deinem Geist arbeitest, legst du manchmal mehr Betonung auf Mitgefühl und manchmal mehr Betonung auf Weisheit. Wegen des Mitgefühls läufst du nicht vor Samsara davon. Du willst anderen helfen. Wegen der Weisheit verstehst du die wahre Natur der Dinge, und deine Anhaftung nimmt ab. Nur mit beidem, Mitgefühl und Weisheit, wirst du in der Lage sein, vollständige Erleuchtung zu erlangen. Wenn man sowohl Weisheit als auch Mitgefühl braucht, ist das wie bei einem Vogel, der zwei Flügel braucht, um zu fliegen. Wenn du sowohl Mitgefühl als auch Weisheit kultivierst, praktizierst du wahrhaftig den eigentlichen Pfad.