Kagyu Samye Dzong Kirchheim e.V.

Wir wünschen uns Liebe

von S. H. XIV Dalai Lama

Der Grund dafür, dass Liebe und Mitgefühl das höchste Glück hervorbringen, liegt letztlich darin, dass uns diese Tugenden mehr bedeuten als alles andere. Der Wunsch nach Liebe ist in jeder menschlichen Existenz tief verwurzelt. Er entsteht, weil wir alle ganz grundlegend miteinander in Verbindung stehen und voneinander abhängig sind.

Ein Mensch mag noch so große Fähigkeiten haben – ist er auf sich selbst gestellt, kann er nicht überleben. Wie stark und unabhängig man sich auch in besonders guten Zeiten fühlen mag, so ist man doch immer auf die Unterstützung anderer angewiesen, wenn man krank, sehr jung oder sehr alt ist. Die wechselseitige Abhängigkeit ist ein grundlegendes Naturgesetz. Nicht nur höhere Lebensformen, sondern auch kleinste Insekten sind soziale Wesen, die ohne Religion, Gesetze oder Bildung überleben. Es gelingt ihnen durch kooperatives Miteinander, das auf ihrer gegenseitigen Verbundenheit basiert, die sie instinktiv erfassen. Auch auf der subtilsten Ebene der Materie herrscht das Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeit.

Alle Phänomene, die uns auf der Erde umgeben – Ozeane, Wolken, Wälder, Blumen – sind Produkte subtiler Energiemuster. Wird ihr Zusammenspiel gestört, lösen sie sich auf und verschwinden. Weil wir als Menschen so abhängig von der Hilfe anderer sind, bildet die Liebe das grundlegende Fundament unserer Existenz. Deshalb brauchen wir einen gut ausgeprägten Sinn für Verantwortung und das ehrliche Bemühen, anderen zu helfen. Wir müssen immer daran denken, was uns Menschen eigentlich ausmacht. Wir sind keine maschinell hergestellten Objekte. Wäre dies so, dann könnten Maschinen alle unsere Leiden beseitigen und unsere Bedürfnisse erfüllen. Da wir aber nicht nur aus Materie bestehen, ist es ein Irrglaube, all unsere Hoffnungen auf Glück hingen allein von äußeren Umständen ab. Stattdessen sollten wir uns auf unsere Wurzeln, unsere wahre Natur besinnen, um herauszufinden, was wir wirklich brauchen.

Wenn man die komplexe Frage, wie unser Universum entstanden ist und sich entwickelt hat, einmal beiseite lässt, so können wir doch zumindest darüber übereinstimmen, dass jede:r von uns das Produkt der eigenen Eltern ist. In der Regel sind wir nicht nur aufgrund von sexuellem Verlangen entstanden, sondern auch weil sich unsere Eltern ein Kind wünschten. Eine solche Entscheidung basiert auf Verantwortungsgefühl und Altruismus – die Eltern verpflichten sich, sich um ihr Kind zu kümmern bis es in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. So kann man sagen, dass die Liebe unserer Eltern vom Moment der Empfängnis an ein elementarer Bestandteil unserer Entwicklung ist. Darüber hinaus sind wir von dem frühsten Stadium unserer Entwicklung an komplett abhängig von der Fürsorge unserer Mutter.

Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass der mentale Zustand einer Schwangeren, ob sie z.B. ruhig oder erregt ist, sich unmittelbar auf die körperliche Verfassung des Ungeborenen auswirkt. Liebe spielt auch zum Zeitpunkt der Geburt eine große Rolle. Das erste, was wir tun, ist an der Brust der Mutter zu saugen. Wir spüren auf ganz natürliche Weise ihre Nähe, und sie muss Liebe verspüren, um uns gut nähren zu können. Ist sie ärgerlich oder wütend, kann ihre Milch nicht gut fließen. Danach kommt die entscheidende Phase der Gehirnentwicklung – die Zeitspanne von der Geburt bis wir ca. drei oder vier Jahre alt sind. Während dieser Zeit ist der liebevolle körperliche Kontakt der wichtigste Faktor für die normale Entwicklung eines Kindes.

Wird ein Kind in dieser Phase nicht auf den Arm genommen, liebkost und geherzt, kann es sich nicht gut entwickeln und das Gehirn kann nicht richtig reifen. Ein Kind kann nicht ohne die Fürsorge anderer überleben, und Liebe ist seine wichtigste Nahrung. Eine glückliche Kindheit, die Besänftigung der vielen Ängste eines Kindes und die gesunde Entwicklung seines Selbstvertrauens hängen alle unmittelbar von der Liebe ab. Heutzutage wachsen viele Kinder in ungünstigen Verhältnissen auf. Wenn sie nicht die nötige Zuwendung erfahren, können sie später im Leben ihre Eltern nicht lieben und haben oft Schwierigkeiten, überhaupt andere Menschen zu lieben. Das ist sehr traurig.

Wenn Kinder älter werden und in die Schule kommen, muss die Unterstützung von den Lehrern kommen. Ein Lehrer vermittelt nicht nur akademisches Wissen, sondern übernimmt auch die Verantwortung dafür, seine Schüler auf das Leben vorzubereiten. Dadurch entwickeln die Schüler ein Vertrauensverhältnis und Respekt, und das Gelernte wird sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis einprägen. Themen, die von einem Lehrer unterrichtet werden, der seinen Schülern nicht die nötige umfassende Zuwendung zuteil werden lässt, werden nur flüchtig wahrgenommen und werden schnell wieder vergessen.

Genauso ist es, wenn man wegen einer Krankheit in einer Klinik behandelt wird und der Arzt Wärme und Menschlichkeit ausstrahlt: Man fühlt sich wohl, und alleine der Wunsch des Arztes, dem Patienten die bestmögliche Behandlung zuteil werden zu lassen, hat schon eine heilende Wirkung, unabhängig davon wie qualifiziert er ist. Fehlt dem Arzt allerdings menschliche Wärme, hat er eine unfreundliche, ungeduldige oder nachlässige Ausstrahlung, fühlt man sich unwohl, selbst wenn er besonders gut qualifiziert ist, die Krankheit korrekt diagnostiziert hat und die richtigen Medikamente verschreibt. Die Gefühle von Patienten haben einen großen Einfluss darauf, wie gut und wie vollständig ihre Krankheit geheilt wird.

Auch in der Konversation im Alltag ist es so: Wenn jemand mit Gefühl und Wärme mit uns spricht, hören wir bereitwillig zu und geben gerne Antworten. Das ganze Gespräch wird interessant, selbst wenn das Thema ziemlich unwichtig ist. Spricht jemand kalt und grob, fühlen wir uns unwohl und hoffen, dass das Gespräch bald vorbei ist. Egal wie wichtig eine Begegnung ist: Die Zuwendung und der Respekt der anderen entscheiden darüber, ob wir uns wohl fühlen.

Kürzlich traf ich eine Gruppe Wissenschaftler in den USA. Sie sagten, der Prozentsatz geistiger Erkrankungen in ihrem Land sei mit rund zwölf Prozent der Bevölkerung ziemlich hoch. Während unserer Diskussion wurde deutlich, dass die Hauptursache für Depressionen nicht ein Mangel an materiellem Besitz, sondern die fehlende Zuwendung anderer ist.

Aus dem, was ich bisher geschrieben habe, wird eines für mich ganz deutlich: Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – von dem Tag an, an dem wir auf die Welt kommen, haben wir das Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung direkt im Blut. Selbst wenn dieses Bedürfnis von einem Tier gestillt wird oder von jemandem, den wir sonst als Feind betrachten, fühlen wir uns als Kind und Erwachsener zu diesem Wesen hingezogen. Ich glaube, niemand wird ohne den Wunsch nach Liebe geboren. Dies zeigt, dass Menschen nicht als rein physische Wesen definiert werden können, selbst wenn einige moderne Denkschulen es versucht haben. Kein materielles Objekt, wie schön oder kostbar es auch sein mag, kann uns das Gefühl geben, geliebt zu werden, da unsere tiefere Identität und unser wahrer Charakter in der Subjektivität unseres Geistes zu finden sind.    

  • Teaching angelegt von Stephan
  • letzte Bearbeitung am: 16. April 2024