Gegenseitige Abhängigkeit
von 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje
Wir tendieren dazu, den Wert eines Elefanten hoch einzuschätzen, weil er groß ist. Schaut man dagegen ein Insekt an, so kann es einem im Vergleich so vorkommen, als sei es unbedeutend und zu nichts fähig. Man könnte denken, es sei unnütz, aber in Wirklichkeit haben alle Lebewesen auf diesem Planeten ihre spezielle Aufgabe. Der genaue Grund dafür ist die Tatsache, dass sich alle in einer gegenseitigen Abhängigkeit befinden und sich gegenseitig unterstützen. Alle sind formgebende Teile desselben biologischen Systems. Eine Biene etwa hat nur einen kleinen Körper, ist aber von großem Nutzen. Bienen nehmen von den Blüten den Pollen auf und befruchten so andere Pflanzen. Für den Planeten und die Menschheit ist das außerordentlich wichtig.
Man hört immer häufiger von Wissenschaftlern, welche speziellen Funktionen die einzelnen Arten erfüllen. Tatsache ist, dass wir alle miteinander verbunden sind. Alles auf diesem Planeten – das Belebte und das Unbelebte und besonders die Lebewesen – steht alles miteinander in Wechselbeziehung und ist miteinander vernetzt. Alles ist mit allem verbunden. Im Buddhismus gibt es eine sehr schöne und treffende Bezeichnung, um diese Art der Beziehung zu beschreiben: man spricht von der „Beziehung zwischen Mutter und Kind“. Diese Bezeichnung bedeutet nicht, dass zwischen voneinander getrennten Objekten ein Bezug hergestellt wird, so als wäre hier irgendeine Mutter und dort irgendein Kind. Gemeint ist mit „Beziehung von Mutter und Kind“ in diesem Kontext stattdessen eine enge und positiv besetzte Verbindung, eine geistige Nähe oder ein gemeinsames Potenzial. Das, was die „Beziehung von Mutter und Kind“ ausmacht, kann auf andere Bezüge übertragen werden.
So gewinnen wir ein klares, positives Bild von uns selbst in einer vergleichbar vertrauten Verbindung zu der uns umgebenden Welt, der belebten wie der unbelebten. Aus dem Gefühl der Autonomie und Unabhängigkeit von anderen heraus haben wir alle das Empfinden, da sei ein Selbst in uns, beziehungsweise es existiere tatsächlich ein Selbst. Wir glauben, wir könnten ohne andere auskommen, und halten an der Vorstellung fest, wir seien von anderen getrennt. Wenn man aber genauer darüber nachdenkt, wie die Realität ist, und sich fragt, ob tatsächlich ein unabhängiges oder autonomes Selbst vorhanden ist, erkennt man, dass sich die Bezeichnung „ich“ meistens auf den eigenen Körper bezieht.
Wir nehmen einen physischen Körper wahr, und dieser dient uns als wichtigster Bezugspunkt. An ihm machen wir unsere Vorstellung eines eigenständig existierenden Selbst oder Ich fest, obwohl sich deutlich zeigt, dass der Körper nicht autark ist. Im Gegenteil: Es waren unsere Eltern, die bewirkten, dass er existiert. Eine andere, eher feinstoffliche Beschreibung wäre, dass er aus den Substanzen anderer entstand. Einen Körper zu besitzen ist außerdem nicht genug: Man muss ihn auch unterhalten. Wenn uns Kleidung, Essen und viele andere Dinge fehlen, die wir zum Leben brauchen, verwandelt sich der Körper in eine Leiche. Und wo kommen das Essen und die Kleidung, die unser Körper braucht, her? Auch das kommt von anderen.
In den Meditationsgruppen geht es immer wieder um die letztendliche oder „absolute“ Realität aller Dinge, der Leerheit von eigenständiger, unabhängiger, fester Existenz. Dazu folgen einige Gedanken aus einem Vortrag von HH. 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje. „Das Verständnis der Leerheit kann unser wichtigster Grund sein, über Herzensgüte und Mitgefühl zu meditieren.“ Seine Heiligkeit der Karmapa deutete auf eine falsche Tendenz hin, die Leerheit als eine Form des Nihilismus negativ zu betrachten, und unterstrich die Wichtigkeit, Leerheit positiver zu sehen. Er präsentierte die Leerheit als Grundlage aller Möglichkeiten.
Leerheit kann als der inhärente Raum der Möglichkeit angesehen werden, der für uns alle existiert. Leerheit ist Freiheit von Vorurteilen jeglicher Art. Es ist der Raum der angeborenen Freiheit. Da alle Phänomene von Natur aus leer sind, kann sich alles manifestieren, alles entstehen. Auf diese Weise ist die Leerheit die Quelle oder der Ursprung von allem. Es ist wirklich nicht so, dass Leerheit der Ort ist, an dem alles nicht mehr existiert. Es ist eher so, dass die Leerheit die Quelle ist, aus der alles entsteht.
Es besteht eine enge Verbindung zwischen der philosophischen Sichtweise der Leerheit und der der gegenseitigen Abhängigkeit aller Dinge. Beginnend mit dem Kosmos und endend mit der Kombination von atomaren Partikeln. Alles, was existiert, ist nur durch das Zusammentreffen mehrerer miteinander verbundener Ursachen und Bedingungen entstanden.
Wenn alles für sich allein existieren würde, ohne Verbindung zu irgendetwas anderem, wäre es unmöglich, dass neue Dinge entstehen. Dies zeigt uns, dass den Dingen ihre eigene unabhängige oder getrennte Identität fehlt, und daher gesagt werden kann, dass sie voneinander abhängig sind oder keine unabhängige Essenz aufweisen. Leerheit oder gegenseitige Abhängigkeit sind also zwei Möglichkeiten, sich derselben fundamentalen Realität zu nähern.
Es geht nicht darum, die Leerheit als philosophische Darstellung zu verstehen. Es ist sehr wichtig, dass wir ständig erforschen, wie Leerheit uns in unserem täglichen Leben zugute kommen kann und insbesondere, wie sie unserer Praxis des Mitgefühls unterstützt. Unser beharrliches Selbstverständnis, das uns als etwas betrachtet, das von anderen getrennt oder unabhängig besteht, ist ein großes Hindernis für Mitgefühl, das überwunden werden kann, indem wir unser Verständnis von Leerheit auf unsere Lebenserfahrungen anwenden. Wir können die wichtige Arbeit des Abbaus dieses dualistischen Verständnisses beginnen, indem wir einfach die unzähligen Arten beobachten, in denen wir – von unseren physischen Körpern bis zu unserer Identität – von dem abhängen, was wir „andere“ nennen.
Wenn wir sagen, dass das Selbst auf diese Weise nicht existiert oder in seiner Natur leer ist, meinen wir, dass das Selbst nicht so existiert, wie wir es uns vorstellen. Wir sagen nicht, dass es überhaupt kein Selbst gibt. Dies ist ein entscheidender Punkt. Wir lernen über die Leerheit als über die Gesamtheit dessen, wer wir sind. Dies ist der erste Schritt zur Entwicklung des Mitgefühls, indem wir das Verständnis der Leerheit fest in der Sorge begründen, Mitgefühl in die Tat umzusetzen, und die volle Realität davon zu verstehen, wer wir sind.
Dann können wir den zweiten Schritt machen, nämlich zu versuchen, unser Mitgefühl zu nutzen, und es auf andere auszudehnen. Wenn wir diesen zweiten Schritt machen, ohne die Leerheit zu verstehen oder ohne zu wissen, was dieses Ich ist oder wer wir sind, dann ist es wirklich schwierig, diesen zweiten Schritt des Mitgefühls auf echte Weise zu machen. Karmapa erklärte es mit der Analogie eines extrem scharfen Schwertes, das Metall durchtrennen kann, und vergleicht die Schärfe des Schwertes mit unserem Verständnis der Leerheit und den Auswirkungen auf unsere tatsächliche Existenz, die untrennbar ist mit anderen.
Wenn wir das Schwert der Leerheit oder des Wissens über gegenseitige Abhängigkeit sehr scharf machen, werden wir in der Lage sein, das gesamte Eisennetz, das uns in Selbst und Selbstsucht verstrickt, vollständig zu durchschneiden und zu durchbrechen. Er verglich die festen Mauern, die wir durch unsere Selbstbezogenheit und Selbstfixierung um uns herum schaffen mit einem Gefängnis, und forderte sein Publikum auf, der Schärfe des Schwertes die Kraft des Mitgefühls hinzuzufügen. Da die Kraft, mit der man unser Schwert führen muss, um unsere Ketten zu durchschneiden, so groß ist, scherzte der Karmapa, dass es besser wäre, die Analogie einer Kettensäge zu verwenden, die an die Hochspannung intensiven Mitgefühls angeschlossen ist.
Abschließend regte er das Modell eines Aktivisten des Mitgefühls an – jemand, der nicht nur Mitgefühl empfindet, sondern jemand, der Mitgefühl tut. Das Verständnis von Leerheit und gegenseitiger Abhängigkeit kann als klarer Weg dienen, der uns dazu führt, unser Mitgefühl zu entfalten. Ebenso könnten wir uns vorstellen, wie die Welt wäre, wenn es überhaupt kein Mitgefühl gäbe. Wir können bereits die Auswirkungen eines Defizits an Mitgefühls beobachten, und die Erkenntnis der extremen Gefahr eines Mangels an Mitgefühl kann uns auch motivieren, den Weg zu beschreiten, um auf der Grundlage von Mitgefühl zu handeln.
Im Allgemeinen scheint es zu viel Abstand zwischen dem, was wir sagen und dem, was wir tun, zu geben. Karmapa persönlich sieht es so, dass es wichtig ist, sich nicht nur damit zufrieden zu geben, Dinge zu sagen oder sich mit intellektuellem Verständnis zufrieden zu geben. Vielmehr sollten wir unser Verständnis so sinnvoll wie möglich auf unseren Geist anwenden, und es in unsere Erfahrung und Praxis einbringen.