Ego-Fixierung
Die Dharmapraxis dient dem Zweck, die störenden Emotionen und Konzepte zu beruhigen, mit denen unser Geist angefüllt ist. Wenn wir die Belehrungen innerlich verarbeiten und sie unseren Geist durchdringen, kann sich die Kraft des Dharma entfalten und die störenden Emotionen und Konzepte zur Ruhe bringen. Erwecken wir jedoch lediglich äußerlich den Anschein, den Dharma zu praktizieren, ohne dass sich unsere Konzepte und störenden Gefühle verringern, dann nennen wir uns bloß Praktizierende, ohne es jedoch zu sein. Das soll nicht heißen, dass unser Verhalten, das wir nach außen hin zeigen, wie unsere Umwelt uns wahrnimmt, unwichtig wäre, doch entscheidend ist die Schulung, die unseren Geist zähmt.
Hauptsächlich zähmen wir die drei wichtigsten Geistesgifte Unwissenheit, Anhaftung und Abneigung. Unwissenheit, die Wurzel der anderen beiden, wird definiert als das fortgesetzte Anhaften an einem Selbst, von dem wir annehmen, es sei beständig und unabhängig. Dieses Festhalten am Ego ist die Hauptursache für unsere ewige Wiederkehr im Samsara. Es geht uns um den eigenen Vorteil, wenn wir uns wünschen, wir wären im Paradies. Ebenso wünschen wir zu unserem eigenen Vorteil, wir könnten alles Leiden beenden. Wir klammern uns an dieses „Ich“ und halten es für etwas so Besonderes, dass wir meinen, wir sollten nicht mit Problemen behelligt werden, sondern Reichtum, Kraft und Charisma genießen.
Wenn wir unseren Geist ehrlich prüfen, ist diese Art des groben und offensichtlichen Greifens nach einem Selbst sehr leicht zu erkennen. Es gibt auch subtilere Formen des Anhaftens an ein Selbst und das, was zu ihm gehört („mein“), wie den nur kurz aufblitzenden Gedanken an uns selbst, bevor wir an den Nächsten denken. Dadurch, dass wir den Dharma praktizieren, zähmen wir das grobe und das subtile Festhalten an einem Selbst. Geschieht dies nicht, werden wir unsere störenden Gefühle nur vorübergehend unterdrücken können, indem wir uns eine Weile von ihnen distanzieren. Um sie vollständig zu durchtrennen, müssen wir regelmäßig und ausdauernd praktizieren.
Es gibt viele Mittel, um Ego-Fixierung zu lockern und schließlich ganz aufzulösen. Diese Praktiken sind grundlegend, da das Anhaften an einem Selbst die Ursache für die Geistesgifte und die von ihnen motivierten Handlungen bildet und so das Leiden und die Wiedergeburt im Daseinskreislauf erzeugt. Wir erkennen einfach nicht, dass es ein getäuschter Geist ist, der denkt „ich bin“, der an einen Selbst festhält, und es dann hegt und pflegt. Beim Praktizieren sollten wir auch darauf achten, dass wir das Anhaften an einem Selbst nicht gegen das Anhaften am Dharma eintauschen. Denn wenn wir am Dharma anhaften, wird uns dies nur zum Anhaften an unser Ego führen, statt dazu, dieses zu durchtrennen.
S. H. XVII Karmapa Ogyen Trinley Dorje – Augenblicke der Erleuchtung, S. 74-76