Kagyu Samye Dzong Kirchheim e.V.

Aufmerksam für das Glück bleiben

von S. H. XVII Karmapa Ogyen Trinley Dorje

Das vorrangige Ziel eines spirituellen Weges ist wahrhaftiges Glück. Alles andere ist zweitrangig. Wir können uns selbst befragen, wie wir authentisches, wirkliches Glück erschaffen können. Unser edles Herz und unsere menschliche Intelligenz sind exzellente Voraussetzungen dafür, wahres Glück im Leben zu finden. Doch Glück entsteht ebenso wie spirituelles Erwachen nicht durch willkürliches Handeln.

Wir erlangen kein dauerhaftes Glück, indem wir einfach dem Diktat unserer wechselnden Emotionen folgen. Und wir erreichen es auch nicht durch automatische und unbewusste Wiederholung gewohnheitsmäßigen Verhaltens. Wir müssen die uns innewohnende Intelligenz und unsere Weisheit anwenden, wollen wir den Sinn unseres Lebens entdecken. Doch dies gelingt nicht allein durch intellektuelle Analyse, denn Glück kann nicht nur vom Verstand ausgehen. Wir brauchen unser Herz dafür. Jeder Schritt im Leben – jede einzelne Erfahrung – ist eine Möglichkeit für spirituelles Wachstum.

Wenn wir gegenwärtige sind, kann uns schon das Sich-Wiegen der Grashalme im Wind zur Wahrheit wechselseitiger Abhängigkeit erwachen lassen. Wenn du dir die Zeit nimmst, ganz bei dir zu sein, kannst du viele Momente solcher stillen Entdeckungen erleben. Doch dafür musst du aufhören, Dingen, Menschen und Erfahrungen hinterherzujagen, und die Fähigkeit des Innehaltens entwickeln. Die Gewohnheit, anderem hinterherzujagen, ist stark und das Leben im 21. Jahrhundert unterstützt sie sehr. Wir sind so darin gefangen, all unsere Ziele zu verfolgen und deren widerstreitende Aspekte auszutarieren, dass wir kaum noch dazu kommen, inne zu halten, nachzudenken oder zu beten. Wenn wir in unseren vollen Kalender eine Meditation oder Reflektieren in Stille hineingequetscht haben, ist es schwierig, in dieser Zeit den Geist zur Ruhe kommen zu lassen.

Es ist nicht Erfolg versprechend, Spiritualität wie eine Aktivität unter vielen anderen zu behandeln. Die spirituelle Praxis wird sich dann in einer gehetzten Atmosphäre abspielen und zu einer Art Pflichtübung werden – etwas, das wir erledigen müssen, damit wir die anderen Dinge auf unserer „to do“-Liste auch noch schaffen. Einerseits sollten wir aufpassen, unsere spirituelle Praxis nicht wie andere tägliche Obliegenheiten abzuarbeiten, andererseits sollten wir sie nicht vom Rest unseres Lebens abkoppeln. Wenn sich unser Leben durch die spirituelle Praxis verändern soll, sollte es keine Lücke zwischen den alltäglichen Dingen des Lebens und der Praxis geben. Die Spiritualität muss mit dem Leben verschmelzen.

Spiritualität ist ein Prozess der Selbstentdeckung. Was nicht schon als Erfahrung in dir ist, kannst du auch nicht entdecken. Spiritualität muss sich in uns entwickeln. Wenn du Spiritualität als etwas von deinem Leben Getrenntes betrachtest, kann dein Leben sehr von Spiritualität geformt werden. Doch dein Leben sollte deine Spiritualität formen, und nicht umgekehrt. Du verstehst deine Spiritualität – und vielleicht das ganze Universum – durch dein eigenes Leben. Manche Menschen haben die Erwartung, spirituelle Praxis würde aus bestimmten Techniken bestehen, durch deren Anwendungen das Leben spirituell werde. Doch wenn wir das, worum es uns geht, im Blick behalten und wir mit unseren spirituellen Prioritäten verbunden bleiben, sollten sich „spirituelle“ und „nicht-spirituelle“ Aktivitäten nicht unterschiedlich anfühlen.

Eine der größten Herausforderungen im Leben besteht darin, achtsam dafür bleiben, wer wir sind und was wir tun. Dieses Gewahrsein ständig lebendig zu halten, ist eine große Unterstützung für unser spirituelles Wachstum. Ein Aspekt spirituellen Lebens ist, bewusst zu leben. Dafür müssen wir so achtsam wie möglich sein. Ohne Achtsamkeit werden wir zu Schlafwandlern im eigenen Leben.

Wir handeln, ohne zu wissen, was wir tun. Sich viel Wissen und viele spirituelle Techniken anzueignen, ohne sie mit Achtsamkeit anzuwenden, entspricht einem hervorragenden Schwimmer, der so plötzlich ins Wasser fällt, dass er nicht mehr weiß, wer er ist und was er tun soll. In seiner Panik vergisst er sogar, dass er ein großartiger Schwimmer ist und an Land schwimmen sollte. All seine Techniken erweisen sich genau in dem Moment als nutzlos, in dem er sie am meisten braucht, denn es fehlt ihm an Achtsamkeit.

Quelle: S. H. XVII Karmapa Ogyen Trinley Dorje. Das Edle Herz – Die Welt von innen verändern, S. 213-215

  • Teaching angelegt von Stephan
  • letzte Bearbeitung am: 21. April 2024