Kagyu Samye Dzong Kirchheim e.V.

Alles ist möglich

von S. H. XVII Karmapa Ogyen Trinley Dorje

Wenn du davon träumst, was das Leben alles für dich bereithalten könnte, solltest du wissen, dass alles möglich ist. Vielleicht siehst und empfindest du es nicht immer so, aber die Möglichkeit, den Kurs zu ändern, steht dir in jedem Moment offen. Dein Leben verändert sich ständig. Veränderung ist die einzige Konstante deiner Existenz. Der Mensch, der du heute bist, ist nicht der gleiche wie der, der du in zehn, fünf oder auch nur einem Jahr sein wirst. Deine Lebensbedingungen ändern sich ständig, du reagierst darauf, und dies formt wiederum dich. In diesem Prozess verfügst du nicht nur über unbeschränkte Freiheit, dich selbst zu formen, sondern du veränderst auch die Welt. Die Frage ist, wie du mit diesen unbeschränkten Möglichkeiten, die die Grundlage deines Lebens bilden, umgehst. Wie kannst du ein sinnvolles Leben inmitten einer sich ständig verändernden Welt führen?

Buddhistisches Denken widmet sich in besonderer Weise genau diesen Fragen. Die Vorstellung, dass das Leben ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist, wird in den Konzepten von „wechselseitiger Abhängigkeit“ und „Leerheit“ entfaltet. Der Begriff der Leerheit suggeriert möglicherweise die Vorstellung von Nichts oder Leere, doch tatsächlich soll er uns daran erinnern, dass nichts in einem Vakuum existiert, sondern in gegenseitiger Verbindung mit anderem. Alles ist eingebettet in einen Kontext – in ein komplexes Geflecht von Bedingungen. Und diese Bedingungen sowie dieser Kontext ändern sich ständig. Wenn wir davon sprechen, dass die Dinge „leer“ sind, meinen wir damit, dass sie keine außerhalb dieser sich verändernden Kontexte unabhängige Existenz haben.

Da in diesem Sinne alles leer ist, ist aber auch alles in der Lage, sich ständig neu anzupassen. Auch wir besitzen diese grundlegende Flexibilität, uns an alles anzupassen bzw. uns zu verändern und alles zu werden. Leerheit sollte also nicht mit „Nichts“ verwechselt werden; im Gegenteil: Leerheit ist voller Potential, voller Wirkkraft. Richtig verstanden, kann das Konzept der Leerheit eher unseren Optimismus als unseren Pessimismus nähren, denn es erinnert uns an unsere grenzenlosen Möglichkeiten und an unsere Gestaltungsspielräume in der Welt. Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit zeigen uns, dass es keine festgelegten Vorbedingungen für Veränderung gibt. Was immer wir haben, wo immer wir sind – das ist genau der richtige Ort, zu beginnen. Wir brauchen dafür nichts. Viele Menschen meinen, es fehle ihnen etwas, Macht oder Geld, um ihre Träume zu leben. Doch jeder Zeitpunkt ist der richtige, um an den eigenen Träumen zu arbeiten.

Diese Perspektive eröffnet uns die Leerheit. Wir können bei null anfangen. Alles kann entstehen, weil nirgendwo festgelegt ist, wie Dinge sein müssen. Jede Manifestation hängt von den Bedingungen ab, die in diesem Moment zusammenkommen. Doch „alles ist möglich“ bedeutet nicht, dass das Leben zufällig oder willkürlich wäre. Wir können alles möglich machen, doch nur, indem wir die notwendigen Bedingungen dafür schaffen. An dieser Stelle verbinden sich die Konzepte von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit. Jeder Mensch, jeder Ort und jedes Ding ist in seiner Existenz vollständig abhängig von anderen – sowohl von anderen Menschen als auch von anderen Dingen.

Zum Beispiel sind wir gerade jetzt lebendig, weil wir uns der notwendigen Bedingungen für unser Überleben erfreuen. Dazu gehören die zahllosen Mahlzeiten, die wir in unserem Leben bereits eingenommen haben, aber auch die Sonne, die auf die Erde scheint, und die Wolken, die den Regen bringen, sodass das Getreide gedeiht. Bestimmte Menschen kümmern sich um das Getreide, ernten es und bringen es zum Markt. Andere bereiten daraus ein Mahl für uns. Dieser Prozess verbindet uns, weil er ständige Wiederholungen erfährt, mit immer mehr Menschen auf der Welt, mit immer mehr Sonnenstrahlen und Regentropfen. Letztlich sind wir mit nichts und niemanden auf dieser Welt nicht verbunden. Dies beschreibend, prägte der Buddha den Begriff der wechselseitigen Abhängigkeit oder des abhängigen Entstehens. Sie ist die Natur menschlichen Lebens, aller Dinge und Situationen.

Wir sind alle miteinander verbunden und zugleich die Bedingungen für die Existenz anderer. Unter all den Bedingungen, die uns beeinflussen, sind die Entscheidungen, die wir treffen, und die Schritte, die wir unternehmen, besonders wichtig: Sie tragen maßgeblich zu den Folgen unseres Handelns bei. Handeln wir konstruktiv, so entsteht etwas Konstruktives. Handeln wir jedoch destruktiv, werden die Ergebnisse destruktiv und leidbringend sein. Alles ist möglich, doch wir müssen bedenken, dass alles, was wir tun, zählt und weit über uns persönlich hinausreicht. In einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeit zu leben hat daher ganz bestimmte Konsequenzen für uns. Es bedeutet, unser Handeln hat Auswirkungen auf andere; dies macht uns füreinander verantwortlich.

Quelle: S. H. XVII Karmapa Ogyen Trinley Dorje, Das Edle Herz – Die Welt von innen verändern

  • Teaching angelegt von Stephan
  • letzte Bearbeitung am: 21. April 2024