Kagyu Samye Dzong Kirchheim e.V.

Aus einem Interview

Entwickle dein Herz. Sei ein mitfühlender Mensch. Arbeite für den Frieden. Gib nie auf.

Reporterin: Haben Sie es jemals bereut, nach Schottland gekommen zu sein?

Lama Yeshe Rinpoche: Nein, ich hatte keine Wahl! Ich bin so glücklich hier zu sein. Ich verließ Tibet, als ich sehr jung war. Mein Vater und meine Mutter starben dort und es war mir nicht möglich, nach Tibet zurückzukehren. Als ich ging, war ich 15 Jahre alt – da sehen Sie, was ich für eine Antiquität bin! Ich konnte keine andere Sprache sprechen, ich hatte nie andere Menschen außer Tibetern gesehen. Ich wurde in seinem sehr kleinen Dorf geboren.

Reporterin: [Die Reporterin erzählt kurz davon, wie die drei Brüder Tibet verlassen mussten und schließlich in den Südwesten von Schottland kamen, wie dort ein Kloster, Samye Ling, mit einer Handvoll Mönche gegründet wurde, das heute als das erste und größte buddhistische Kloster Westeuropas bekannt ist. Als solches, erklärt die Reporterin, sei es auch eine Touristenattraktion in Schottland.] Macht es Ihnen etwas aus, dass Samye Ling auch als Fremdenverkehrsort bekannt ist?

Lama Yeshe Rinpoche: Das macht mir nichts aus, weil es eine Möglichkeit ist, den Menschen zu nutzen – es ist ein Zufluchtsort. Die Menschen sind sehr angespannt, sie sind sehr unglücklich, und so kommen sie zu einem Ort wie diesem: Hier beurteilt einen niemand, keiner versucht, jemanden zum Buddhismus zu bekehren, denn es gibt keine sogenannte Bekehrung. Das Einzige, das wir hier lehren, ist, wie man ein guter und weiter entwickelter Mensch ist.

Reporterin: Warum dieser Ort? Was ist so besonders an Eskdalemuir?

Lama Yeshe Rinpoche: Das hat uns jeder gefragt: Warum um alles in der Welt habt ihr einen solchen Platz gewählt? Als wir damals hierherkamen – ich kam 1969 hierher – zu dieser Zeit lautete der Wetterbericht für Eskdalemuir immer, es sei am nassesten, am feuchtesten, am kältesten. Also hat uns jeder gefragt: Warum habt ihr diesen Platz gewählt? Ich sagte: Wir haben nicht gewählt, wir waren Flüchtlinge. Und dieser Ort war eben verfügbar für uns. Aber ich sage immer: positiv Denken und immer das tun, was wir können. Also sage ich jetzt: Ich bin ein Glücks-Lama, ich habe das Wetter verändert. [Lama Yeshe Rinpoche lacht.] Wir haben hier tatsächlich viele Monate gutes Wetter. Und die Leute können sehen, dass wir dem, was wir lehren, treu bleiben. Eigentlich kommt das Wachstum daher, dass wir Liebe und Güte und Fürsorge lehren und niemanden zu diskriminieren. […]

Reporterin: Das Ziel hier ist es, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber Lama Yeshe macht sich Sorgen über die moderne Lebensweise.

Lama Yeshe Rinpoche: Es geht immer nur um „Ich“ als Nummer Eins – „ich, ich, ich“. Also versuche ich das aufzulösen, indem ich sage: Niemand hat einen Nutzen aus dem „ich, ich“. Wie wär’s mit – „wir, wir, wir“! Menschen sollten ihre Intelligenz und ihre Weisheit in richtiger Art und Weise für den Nutzen der gesamten Menschheit einsetzen.

Reporterin: Darf ich Sie fragen – was ist Ihr Rat für ein glückliches Leben? Wie sollten wir leben?

Lama Yeshe Rinpoche: Einfach. Wenn man ein Dach über dem Kopf hat, sollte man glücklich sein. Glaubt nicht, ihr müsstet mehr ansammeln. Verbringt mehr Zeit mit eurer Familie, passt gut auf eure Gesundheit auf, schaut hin, wie ihr der Umwelt wirklich helfen könnt.

Reporterin: Sie sagen, dass die Welt in einem Schlamassel steckt. Kann sie gerettet werden?

Lama Yeshe Rinpoche: Absolut – wir können uns ändern. Je mehr Positivität es gibt, umso mehr wollen Menschen auch Verantwortung übernehmen. [Zur Reporterin:] Wenn ich Sie ansehe, Sie sind eine sehr freudvolle Person, also lächeln Sie weiter und ich glaube, jeder wird davon profitieren! [Lama Yeshe Rinpoche lacht.] Also müssen wir einfach nur lächeln!

Reporterin: Samye Ling ist momentan wegen des Coronavirus geschlossen. Aber normalerweise kommen tausende auf der Suche nach Antworten hierher. Leute wie Leonard Cohen und David Bowie haben dieses spirituelle Zentrum in Dumfriesshire besucht und haben bei ihrer Ankunft den einfachen Lebensstil angenommen.

Lama Yeshe Rinpoche: Jeder bekommt Geld für Zahnpasta, eine Zahnbürste und ein Dach über dem Kopf. Wir sagen, dass wir besonderes Glück haben: Keiner muss sich jemals Sorgen darüber machen, wer die Raten oder die Miete bezahlt – das bezahlt der Verein. Und im Gegenzug arbeitet jeder für das Zentrum. Das ist eine neue Art, ein Leben zu führen: die Menschen können zusammen tätig sein, wenn sie eine ähnliche Motivation haben, wenn wir alle in die richtige Richtung gehen. In diesem Gebäude hier leben Nonnen. Wir haben nur wenige Mönche, die meisten hier sind Nonnen. Und sie haben sehr wichtige Positionen inne: Wir haben drei hohe Lamas, die sind ganz an der Spitze, und das sind alles Frauen. Eine Nonne organisiert ein sehr großes Zentrum in London, eine das Zentrum in Barcelona und die dritte Nonne in Belgien. Die Lehre des Buddha ist, niemanden zu diskriminieren. Wenn wir sagen, dass wir gleich sein wollen, sagt der Buddha: „Klein und groß können nie gleich sein. Wenn ihr genügend Weisheit habt, dann seid ihr schon gleich!“ Also brauchten die Frauen nicht für ihre Stellung zu kämpfen, sie haben sie natürlicherweise durch ihre Entwicklung eingenommen.

Reporterin: Es war Lama Yeshe Rinpoche’s älterer Bruder, der eigentlich das Kloster damals gründete. Akong Rinpoche widmete sein Leben der Entfaltung dieses Ortes und der Hilfe für die armen Menschen in seinem tibetischen Heimatland. Aber vor sieben Jahren, als er wieder auf einer mildtätigen Reise war, wurde er in China umgebracht. Und das bedeutete, dass Lama Yeshe seinen Platz einnehmen musste.

Lama Yeshe Rinpoche: Er wurde ermordet. Aber er wusste es vorher und sagte vielen Leuten, dass er nicht zurückkommen würde. Wir feierten unsere Geburtstage zusammen und beim letzten kamen etwa 500 Leute aus ganz unterschiedlichen Teilen Europas, um mit uns zu feiern. Und am Ende sagte er: „Lama Yeshe Rinpoche wird noch weitere Geburtstage feiern, ich werde keine mehr haben.“ Er wusste ganz genau, was ihm zustoßen würde, aber er opferte sich. Denn wie so viele andere tibetische Lamas war er glücklich, sein Leben für etwas zu geben, das es zu schützen wert ist: Unsere Weisheit, die so nützlich für alle Wesen ist.

Reporterin: Wie sehr wird er hier vermisst?

Lama Yeshe Rinpoche: Er wird sehr vermisst, weil sein Beispiel jedermanns Herz berührte. Egal ob ich nach Südafrika oder nach Spanien gehe – auch hier in Schottland – ihm wurde so viel Respekt entgegengebracht. Er hat vielen tausenden, nicht nur hunderten, Tibetern in Tibet geholfen. Er bewerkstelligte es, dass sie Bildung erhalten konnten. Er war in Tibet sehr bekannt für seine Fähigkeit, furchtlos mit den Chinesen zu sprechen. Ich bin sein jüngerer Bruder: Er ist wie mein Vater, er ist wie meine Mutter. Er sagte: „Ich werde auf meinen jüngeren Bruder aufpassen.“ Er sagte immer: „Ich habe unseren Eltern versprochen, gut auf dich aufzupassen.“ Bis er starb, hat er mich total verwöhnt. [Lama Yeshe lacht.] Aber jetzt muss ich die Verantwortung übernehmen. Und ich zahle einen hohen Preis dafür, sicherzustellen, dass sein Projekt überlebt. […]

Quelle: Border Life: From the mountains of Tibet to the foothills of Dumfriesshire

  • Teaching angelegt von Frank
  • letzte Bearbeitung am: 17. Juli 2024